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»Es darf ihm nichts zustoßen«, sagte der Russe langsam. »Wir müssen verhindern, daß Aranda nun auch nur ein Haar gekrümmt wird …«

 

In Grinzing draußen klopfte es an der Tür von Seelenmachers Büro. »Herein!« rief Groll.

Der traurige junge Inspektor Schäfer mit der Hornbrille kam in den Raum, durch dessen weitgeöffnetes Fenster silberne Schneekristalle sanken.

»Alles erledigt?« fragte der Hofrat.

»Ja. Doktor Stein wartet auf Ihren Anruf, Herr Aranda. Sie müssen auch noch seinen Kompagnon Doktor Weber anrufen. Zu Hause. Hier sind alle Telefonnummern.« Schäfer gab Manuel eine kleine Karte. »Stein schlägt vor, daß Sie sich täglich zwischen 15 und 18 Uhr in der Kanzlei melden und ihn oder Weber verlangen. An Wochenenden rufen Sie eine der Privatnummern an. Sie nennen täglich ein anderes Kennwort als viertes Wort im ersten Satz, den Sie sprechen. Das Kennwort für heute abend ist ›Sauwetter‹. Stein wird Ihnen antworten. Achten Sie auf das siebente Wort in seinem ersten Satz. Das siebente Wort ist immer das Kennwort für den folgenden Tag. Stein und sein Sozius haben das verabredet, damit es zu keinen Komplikationen kommt. So kann niemand Ihre Stimme nachahmen und einen der Herren täuschen. Und selbstverständlich dürfen Sie immer nur aus einer öffentlichen Telefonzelle anrufen.«

»Gut gemacht, Schäfer«, sagte Groll. Der Inspektor nickte und ging aus dem Raum, beklommen und sorgenvoll wie immer.

»Was hat er?« fragte Manuel.

»Seine Frau ist sehr krank. Armer Hund. Rufen Sie meinen Freund Stein an, er wartet.«

Manuel sah auf die kleine Karte, wählte und vernahm gleich darauf eine Männerstimme: »Stein!«

Manuel sagte langsam: »Ist das ein Sauwetter heute abend, was Doktor? Hier spricht Manuel Aranda. Wie geht es Ihnen?«

Stein antwortete: »Ich fürchte sehr, ich bekomme eine Grippe, ich fühle mich ganz zerschlagen.« Er redete ebenfalls langsam und deutlich. Also Grippe ist das Wort für morgen, dachte Manuel. Sie sprachen noch kurz über einen fiktiven Gerichtsfall, dann verabschiedeten sie sich.

»Nun den Kompagnon«, sagte Groll.

Manuel rief den Anwalt Weber an. Die Prozedur wiederholte sich. Auch Weber fürchtete, die Grippe zu bekommen, und zwar derart, daß das Wort ›Grippe‹ an siebenter Stelle in seinem ersten Satz stand.

Als dieses Gespräch beendet war, füllte der Hofrat zwei schöne alte Weingläser aus einem dunklen Steinkrug, der auf einem geschnitzten Wandbord stand. Er sagte, während aus der Tiefe das leise Zitherspiel Seelenmachers erklang: »Ich glaube, nun haben wir alles getan, um zu verhindern, daß Sie das Schicksal Ihres Vaters ereilt.«

Sie tranken beide. Seelenmachers ›Grüner Veltliner‹ schmeckte fruchtig herb und kühl.

»Herr Hofrat«, sagte Manuel, »ich bin sehr glücklich, einen Mann wie Sie getroffen zu haben.«

»Sie können immer auf mich zählen, nun, wenn Sie sich daranmachen, die Wahrheit über den Tod Ihres Vaters zu finden.«

»Danke«, sagte Manuel und fühlte, wie eine große Traurigkeit in ihm aufstieg.

»Sie müssen das aber umsichtig anfangen. Zum Beispiel dürfen Sie sich niemals Ihre Trauer derart anmerken lassen wie jetzt vor mir. Nur Zorn soll man bei Ihnen fühlen, Sucht nach Vergeltung.«

Manuel leerte das große Glas in zwei Zügen.

»Ich finde die Wahrheit«, sagte er. »Ich finde heraus, warum Frau Steinfeld meinen Vater vergiftet hat. Alles finde ich heraus – alles über den Mord, das verschlüsselte Manuskript und die Menschen, die in diese Geschichte verwickelt sind.« Er stockte. »Weshalb sehen Sie mich so an? Frau Steinfeld hat meinen Vater vergiftet, das steht fest! Glauben Sie etwa plötzlich, sie hätte keinen Grund dazu gehabt?«

»Es ist mir schrecklich, das zu sagen«, antwortete Groll langsam, »aber ich denke, sie hatte einen besonderen Grund für alles, was sie tat.«

27

Zu dieser Zeit lag Alphonse Louis Clairon in der Abteilung L 73 auf dem Wiener Zentralfriedhof schon unter einer Schneeschicht von neun Zentimeter Höhe. Die Boeing 707 der TWA, in welcher der blonde, stichelhaarige David Parker saß, der Clairons Leben jählings zu einem gewaltsamen Ende gebracht hatte, flog bereits über den Antlantik, der Neuen Welt entgegen.

Groll war in Grinzing von seiner Mordkommission angerufen worden. Man brauchte ihn dringend.

»Was ist passiert?«

»Hören Sie einmal, Herr Hofrat«, sagte ein Kriminalbeamter, der sich offenbar in einem Vernehmungszimmer befand. Aus der Membran von Grolls Telefonhörer erklang auf einmal Gebrüll, so laut und wüst, daß der Hofrat den Hörer vom Ohr nahm und auch Manuel die tobende Stimme eines anderen Beamten vernehmen konnte.

»Das Messer hat auf dem Tisch gelegen! Und da hast du es genommen und bist los auf ihn!«

Eine weibische, hohe Männerstimme jaulte: »Es war Notwehr! Er hat doch hingefaßt und mir die Hose aufknöpfen wollen, das alte Schwein!«

»Einen Dreck hat er!« schrie der Kriminalbeamte, der gewiß nicht lauter schreien konnte. »Du, du hast was von ihm gewollt! Seine Kröten! Du hast ihn absahnen wollen, du Lump! Und weil er dir nichts gegeben hat, hast du das Messer gepackt und ihn abgestochen wie eine Sau!«

»Ich komme gleich«, sagte Groll in den Hörer und legte auf. »Sie sehen«, meinte er zu Manuel, »wir haben auch nette, einfache und klare Morde in Wien …« Er nahm seinen Mantel. »Ich muß ins Geschäft. Kommen Sie mit. Mein Wagen bringt Sie zum Hotel.«

Manuel antwortete nicht.

»Was haben Sie?«

»Seien Sie nicht böse. Ich möchte noch ein wenig hier sitzenbleiben«, antwortete Manuel. »Glauben Sie, Ihr Freund erlaubt es?«

»Natürlich. Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch. Es war nur … alles ein bißchen viel für mich. Ich möchte nachdenken … und allein sein …«

»Das verstehe ich«, sagte der Hofrat. »Wir sehen uns morgen. Bleiben Sie, solange Sie mögen. Seelenmacher wird Ihnen ein Taxi besorgen, wenn Sie heimfahren wollen.« Er schüttelte Manuel die Hand. »Kopf hoch«, sagte er.

»Jaja.«

»Das war eine dumme Bemerkung, ich weiß«, murmelte Groll. Er sah den jungen Mann hilflos an, legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und verließ den Raum. Gleich darauf hörte Manuel einen Wagen fortfahren. Aus der Tiefe erklangen noch immer das Zitherspiel und der leise Gesang des Weinhauers.

Manuel trank sein Glas leer und füllte es wieder. Er sah zu dem kleinen, offenen Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die herabsanken, bis ihm wieder schwindlig wurde. So viele Flocken, dachte er. So viele Geheimnisse. Eine Frau hat meinen Vater vergiftet. Mein Vater war in eine böse Affäre verwickelt. Damit muß ich mich abfinden. Vielleicht stellt sich heraus, daß ihn trotz allem keine Schuld traf, daß er ein Opfer war und kein Täter. Aber das verschlüsselte Manuskript. Was hat es zu bedeuten? Kann es überhaupt eine gute Bedeutung haben? Ich bin Chemiker. Ich habe eine exakte Wissenschaft studiert. Mir ist es nicht gegeben, mit Unsicherheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben. Ich brauche Tatsachen, vernünftige Tatsachen, um all dies Dunkel aufzuhellen und zu klären. Habe ich nicht genug Tatsachen? Zwei Tote. Geheime Agenten. Eine Staatsaffäre, wenn Groll recht hat. Das Manuskript. Ja, das sind Tatsachen, die man dennoch nicht versteht! Verzweifelt dachte Manueclass="underline" Unser aller Existenz ist eine Tatsache. Aber sie wäre unbegreiflich, wenn wir nicht hier wären. Wir sind hier, und sie bleibt weiter unbegreiflich. Vater, dachte er, Vater, den ich liebe, darf ich noch glauben, daß du der wunderbare Mann warst, als der du mir immer erschienen bist?

»Sie war eine wunderbare Frau …«

Das hatte Irene Waldegg von Valerie Steinfeld gesagt, heute nachmittag, vor dem verschneiten Grab.

Eine wunderbare Frau.

Und mein Vater war ein wunderbarer Mann.

Können wir beide recht haben? Täusche ich mich? Täuscht sich Irene? Irene!