Plötzlich mußte Manuel heftig an sie denken. Irene hat Nachtdienst heute, in der Apotheke. Ich will noch zu ihr fahren. Ich muß ihr erzählen, was geschehen ist. Ich muß mit ihr sprechen. Große Sehnsucht, Irene Waldegg wiederzusehen, erfüllte ihn, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Noch fünf Minuten, dachte er. Noch ein Glas Wein.
Als er den Krug hob, öffnete sich die Tür, und Seelenmacher kam herein.
Es war Manuel nicht aufgefallen, daß schon seit einiger Zeit kein Gesang und kein Zitherspiel mehr erklangen.
Der große Mann mit dem wettergegerbten Gesicht brachte einen Krug und Gläser mit. Er lächelte Manuel an, nickte und setzte sich zu ihm. Seelenmacher schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Mein Freund hat mich gebeten, nach Ihnen zu schauen.« Er füllte die neuen Gläser aus dem neuen Krug. »Versuchen Sie einmal den«, sagte er. »Eine andere Sorte. Ich habe nur ganz wenig davon. Frühroter Veltliner.« Seelenmacher sprach langsam und einfach. »Sie haben einen großen Kummer, sagt mir mein Freund. Und großes Unglück ist Ihnen widerfahren. Sie sind verwirrt und verstört und traurig.«
Manuel nickte. Der neue Wein wärmte ihn und machte ihn benommen. Irene, dachte er, ich will zu Irene fahren. In ein paar Minuten. Noch ein paar Minuten will ich hierbleiben, im Frieden und in der Geborgenheit dieses Zimmers …
»Wolfgang – der Hofrat Groll – hat Ihnen erzählt, daß ich ein Priesterseminar besuchte und Pfarrer werden wollte, nicht wahr?«
Manuel nickte.
»Nun«, sagte Seelenmacher, »damals, vor langer Zeit, traf ich – mit Erlaubnis – immer wieder einen Rabbiner im Zweiten Bezirk. Wir diskutierten nächtelang in seiner Synagoge. Er erzählte mir eine chassidische Legende, die ich nie vergessen habe. Ich möchte sie gern Ihnen erzählen – vielleicht tröstet Sie die Geschichte. Wollen Sie sie hören?«
Manuel nickte.
Seelenmacher sagte, seine zerfurchten, großen und von schwerer Arbeit rauhen Hände betrachtend: »Nach dieser Legende gibt es, seit unsere Welt besteht, Gerechte und Ungerechte auf ihr. Manchmal mehr Gerechte, manchmal weniger. Immer aber und zu allen Zeiten gibt es mindestens sechsunddreißig von ihnen. Die muß es geben, denn sonst könnte unsere Welt keinen Tag lang weiterexistieren, sie würde untergehen in der eigenen Schuld …« Seelenmacher trank, und auch Manuel trank wieder von dem neuen Wein und sah zu dem silbernen Rieselvorhang der Flocken vor dem Fenster. »Die Sechsunddreißig sind nicht durch Rang oder Stellung gezeichnet. Sie verraten ihr Geheimnis nie. Vielleicht kennen sie es selbst nicht. Und trotzdem sind sie es, die in jeder neuen Generation unserem Leben seine Berechtigung geben und jeden Tag von neuem die Welt retten.«
Seelenmacher schwieg wie Manuel.
Nach einer langen Pause sagte er: »Die Sechsunddreißig lassen nicht zu, daß Unrecht besteht oder ungesühnt bleibt. Die Sechsunddreißig sorgen auch dafür, daß Sie wieder Frieden finden werden in der Kenntnis der Wahrheit.«
Das Telefon läutete.
Seelenmacher hob ab und meldete sich. Dann reichte er den Hörer zu Manuel.
»Für Sie. Eine Frau.«
»Wie heißt sie?«
»Sie nannte mir nicht ihren Namen. Sie sagte nur, es sei sehr dringend.« Manuel nahm den Hörer und meldete sich: »Hier ist Aranda. Mit wem spreche ich? Was ist so dringend?«
Eine dunkle Frauenstimme ertönte: »Außerordentlich dringend ist es, Herr Aranda. Man hat mir gesagt, daß Sie in Grinzing sind.«
Die Autos, die uns folgten, dachte Manuel. Also warten sie noch immer. Er fragte: »Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Es ist weit zu mir. Und kompliziert von Grinzing aus. Sie haben einen eigenen Wagen. Er steht vor dem Hotel, höre ich. Vom Hotel aus ist es einfacher. Ich erkläre Ihnen den Weg genau. Nehmen Sie ein Taxi zum ›Ritz‹ und dann Ihren Mercedes.«
»Wer sind Sie?«
»Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie kommen. Ich habe Ihnen das anzubieten, was Sie suchen.«
»Hören Sie nicht? Ich frage, wer Sie sind!« rief Manuel.
»Mein Name«, erwiderte die tiefe, dunkle Stimme, »ist Nora Hill. Ich bin die Frau, von der Valerie Steinfeld die Zyankali-Kapseln bekam.«
28
»Yvonne war sehr böse. Sie muß bestraft werden. Wer von Ihnen will sie auspeitschen, meine Herren?« fragte Nora Hill mit rauher, tiefer Stimme. Sie sprach nicht besonders laut, und doch schienen ihre Worte zu hallen, so groß war die Stille in der kreisrunden Halle, die schwach von blauem Licht erhellt wurde. Manuel, den ein athletisch gebauter Mann im Smoking ins Haus gelassen hatte, wartete weit hinten, fast im Dunkeln. Nora Hill stand im Lichtkreis eines Scheinwerfers. Manuel wußte, daß es Nora Hill war. Der Athlet hatte erklärt: »Madame ist im Moment beschäftigt. Aber sie hat mir Ihr Kommen avisiert. Ich werde melden, daß Sie da sind. Bitte, warten Sie hier.«
Hier – das war ein antik eingerichteter kleiner Salon gewesen, in den der Athlet Manuel geführt hatte. Von draußen waren viele Geräusche und Musik hereingeklungen. Ihnen folgte plötzliche Stille und danach die harte, befehlende Stimme einer Frau. Manuel hatte die Bitte des Athleten mißachtet, seine Neugier war zu groß gewesen. Er wollte die beschäftigte Madame sehen. Leise verließ er den Salon und gelangte durch einen menschenleeren kurzen Gang in die Halle. Da erblickte er dann die Dame des Hauses …
Neben Nora Hill stand, gleichfalls im gleißenden Lichtkegel des Scheinwerfers, ein junges Mädchen mit flammend rotem Haar. Nora Hills Abendkleid war knöchellang und aus Silberlamé. Sie hatte schwarzes Haar, schwarze, große Augen, einen großen Mund und war stark geschminkt. Eine faszinierende Frau, dachte Manuel. Wie alt? Vierzig, höchstens. An jedem Ohr trug Nora Hill einen großen tropfenförmigen Smaragd, ein Smaragdkollier mit vielen Steinen um den Hals und einen Smaragdring. Der Schmuck funkelte. Mit beiden Händen stützte Nora Hill sich auf die Griffe von zwei modernen Leichtmetallkrücken, deren gepolsterte Enden ihren Ellbogengelenken angepaßt waren.
In der rechten Hand hielt sie eine Peitsche. Die Peitsche hatte einen kurzen Stiel und zahlreiche dünne braune Riemen. Leder ist das wohl, dachte Manuel. Nun hob Nora Hill die rechte Hand samt der Krücke, stützte sich schwer auf die linke und ließ die Peitsche durch die Luft sausen. Die Riemen pfiffen.
»Also, meine Herren! Yvonne muß ihre Strafe bekommen. Auf der Stelle! Wer will, kann sie schlagen, bis sie ohnmächtig wird!«
Das Mädchen neben ihr war vollkommen nackt. Es versuchte, die Scham und die Brüste mit Armen und Händen zu verbergen.
»Hände weg!« sagte Nora Hill.
Das Mädchen zögerte.
Nora Hill schlug ihr klatschend die vielschwänzige Peitsche über den Rücken. Das Mädchen schrie auf.
»Hände weg!«
Yvonne ließ die Arme sinken. Nun stand sie völlig entblößt da. Das Dreieck ihrer Scham leuchtete rot wie das Kopfhaar.
»Sie werden sich doch nicht genieren! Vorwärts, meine Herren!« Nora Hill hob nie die Stimme. Sie lehnte den Krückstock, den sie zusammen mit der Peitsche hielt, gegen ein Fauteuil. Nun hatte sie die Rechte frei für die Peitsche. Die Linke stützte sich schwer auf die zweite Krücke.
In dem bläulich erhellten Halbdunkel der großen Halle, in die Nora Hill blickte, saßen mindestens zwanzig Männer und mindestens ein Dutzend Mädchen auf Lehnstühlen, auf Couches, an kleinen Tischen, vor Gläsern, Flaschen und Sektkübeln. Manuel sah wenig mehr als Silhouetten. Es waren junge und ältere Männer, in Abendkleidung, in Straßenanzügen. Manuel erkannte, daß die Mädchen alle jung und hübsch waren. Neben sehr hellhäutigen gab es auch dunklere Typen, ja eine Negerin. Die Mädchen saßen bei den Männern, auf ihren Knien. Wenige waren komplett angezogen. Die meisten befanden sich in verschiedenen Stadien der Entblößung, sie trugen nur Schuhe und mehr oder weniger Unterwäsche.
Nora Hill balancierte geschickt und mit langer Übung ihr Gleichgewicht auf dem einen Krückstock aus und schlug dem rothaarigen Mädchen dann die Riemen der Peitsche über den weißen Bauch. Yvonne hatte eine sehr helle Haut. Sie schrie wieder und krümmte sich. Sofort schlug Nora neuerlich zu, auf das Gesäß. Die Riemen knallten. Die Schläge klatschten. »Na, was ist denn, meine Herren? Das macht doch Spaß! Was haben Sie bloß?« Nora Hill sprach ein sehr reines Deutsch, ohne jeden österreichischen Akzent, fiel Manuel plötzlich auf. »Will denn wirklich keiner von Ihnen Yvonne auspeitschen? Keiner?«