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Unter dem Knie des abgewinkelten linken Beines ließ das geschürzte Gewand des Engels eine dreieckige Öffnung entstehen. Den Durchblick mußte Clairon erst säubern, denn natürlich war er zugeschneit. Desgleichen reinigte er ein etwa fünfzehn Zentimeter breites Stück Sockel zwischen der linken großen Zehe des Engels und jener Stelle, an der dessen rechtes Knie die andere Seite der Dreieck-Basis abschloß. Nun besaß Clairon eine Schießscharte für seine 98 k. Er schob den Lauf so ein, daß er als Fixierungspunkt die große Marmorzehe berührte. Die Mündung befand sich genau über dem goldenen u in dem Wort VOLUPTAS.

3

14 Uhr 43.

Ganz langsam bewegte sich der Lauf der 98 k, denn Clairon behielt den näherkommenden blauen Mercedes beharrlich im Fadenkreuz. Es war weit vom Hotel ›Ritz‹ am Ring bis hier heraus, er hatte lange auf Aranda warten müssen. Aber nun kam er wenigstens wirklich. Clairons Hände waren warm, doch sein Körper begann zu erstarren.

Zart hob er die Waffe an. Durch das Zielfernrohr glitt sein Blick von der Nummerntafel des Wagens über den Kühler und die Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe. Ihr Glas spiegelte so stark, daß Clairon überhaupt nichts erkennen konnte.

Der Mercedes fuhr im Schritt, der Glätte wegen zweifellos, und dann suchte Aranda gewiß den richtigen Weg, der von der Allee fort in die Gruppe 74 hinein und zu jenem Grab führte. Die kleinen Schilder hier waren alle im Schnee versunken. Aranda würde es schwer haben, und das war gut so. Der Lauf der 98 k wanderte weiter, Millimeter um Millimeter. Mit der Engelzehe als Drehpunkt ließ er sich leicht führen.

In der Ferne erklang wieder dumpfes Brausen.

Clairon hatte das, was nun kam, schon viele Male erlebt, seit er sich hier aufhielt. Kurz blickte er auf die Armbanduhr.

14 Uhr 45.

Diesmal ist es PAN AMERICAN 751 nach Rom, Beirut, Karatschi, Kalkutta und Hongkong, dachte er automatisch. Rollt eben an. Südöstlich, nicht allzuweit entfernt, liegt der internationale Großflughafen Schwechat. Alle startenden Maschinen überqueren den Friedhof. Ihr Lärm macht jedes andere Geräusch unhörbar, also auch das eines Schusses. Die Krähen verstummen, wenn die Flugzeuge über sie hinwegrasen. Daß die Ausflugsschneise derart günstig lag, hatte sogar den hochgradig nervösen und ernsten Chef fröhlicher gestimmt. Im Reisebüro gab es Flugpläne. Clairons bemerkenswertes Gehirn speicherte seit gestern abend Zeiten und Flugziele, Typen und Gesellschaften aller Maschinen, die zwischen 12 und 17 Uhr an diesem Tag starteten und landeten. Das da zum Beispiel war eine Boeing 707. In einer Minute wird sie hier sein, dachte Clairon. Vielleicht ist Manuel Aranda dann schon aus seinem Wagen gestiegen. Enormes Glück natürlich, wenn es gleich beim ersten Versuch klappt. Näher kam der Mercedes, immer näher. Lauter schwoll das Toben der Düsen an, immer lauter. Ihr Dröhnen nahm beständig zu, es wurde ungeheuer stark, denn die niedere Wolkendecke wirkte wie eine Echokammer. Nun begann die Luft zu vibrieren, Clairon konnte es fühlen. Er preßte sich gegen die Rückseite des großen Grabsteins. Der vibrierte nicht.

Von den Zweigen der Bäume, von den Grabhügeln stäubten Schneewolken auf, von den Ästen fielen ganze Brocken. Nun kam die Boeing, nun würde sie sofort über dem Friedhof sein. Man konnte sie nicht sehen, die Wolken hingen zu tief. Der Mercedes blieb stehen. Gott sei gepriesen, dachte Clairon.

Die unsichtbare Boeing röhrte, heulte und kreischte. Sie jaulte und donnerte und schien jeden Moment explodieren zu wollen. So wurde der Frieden dieser riesigen Stätte des Todes immer wieder zerstört, von halb sechs Uhr früh bis lange nach Mitternacht.

Dem weinenden Engel fiel ein Klumpen Schnee vom Haupt.

Clairons Augen verengten sich zu Schlitzen. Eine unmenschliche Ruhe, die er in solchen Momenten stets erlebte, überkam ihn. Da drüben, etwa 110 Meter entfernt, stand der Mercedes. Clairon hob den Lauf um eine Winzigkeit seitlich rechts empor und berücksichtigte dabei die geringere Entfernung. Jetzt sah er das Fenster des linken vorderen Wagenschlags im Zielfernrohr.

Steig aus, dachte Clairon. Steig nun schön aus, mein Freund. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Und bleib stehen, ein Augenblick genügt. Ich habe wahrhaft Glück, dachte Clairon, in zitternder Luft, im Höllenlärm der Düsen. Dieser Manuel Aranda, den ich nicht kenne, von dem ich nichts weiß, dieser Mann, den ich töten muß, wird es gleich hinter sich haben. Und ich auch. Komm heraus, Mann, dachte Clairon, komm nun heraus.

Der Wagenschlag öffnete sich. Eine Gestalt wurde sichtbar. Es war kein Mann. Es war eine Frau.

4

»Wie heißt die Tote?«

»Steinfeld.«

»Valerie Steinfeld?«

»Sie kennen den Namen?«

»Na, hören Sie! Hat doch oft genug in den Zeitungen gestanden. Ich hab alles gelesen. Im ›Kurier‹ und im ›Express‹ und in der ›Kronenzeitung‹. Eine unheimliche Geschichte ist das. Kein Mensch weiß …«

»Wo liegt das Grab?« fragte Manuel Aranda ungeduldig. Er war groß und schlank und sah auf den Pförtner herab. Der Pförtner war klein und alt. Er trug eine dunkle Uniform, eine Tellerkappe und einen nikotinverfärbten Walroßschnurrbart. Er tat beim Haupteingang Dienst.

In der Mauer neben der rechten Portalseite befand sich eine Loge, die Tür stand offen. Aranda sah einen Tisch, zwei Stühle, ein Telefon, ein Wandbord mit vielen Schlüsseln und Steckuhren für die Nachtwachleute. Auf dem Zementboden schmolz Schnee zu Dreck. Von der Decke hing eine kahle elektrische Birne herab und erhellte die Loge, deren Wände schwarz und grünlich verfärbt waren. Auf dem Tisch erblickte Aranda eine halbgeleerte Flasche Bier, daneben lagen Brot und Wurst. Teilchen von beiden fanden sich in des Pförtners gelblichem Schnurrbart.

»Sind Sie von der Polizei?« Der kleine Mann blinzelte Aranda an. Sein spitzes Gesicht war sehr weiß, die Ohren und die Nase waren gerötet, auch die Augen. Er sprach ein wenig schwerfällig. Aranda überlegte, ob sich wohl Bier in der Bierflasche befand.

»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht von der Polizei.«

»Aber ein Ausländer sind Sie! So eine braune Haut! Und dann der Akzent. Obwohl der Herr sehr gut deutsch sprechen.« Der Pförtner legte den Kopf schief. »Vielleicht ein Verwandter von der Frau Steinfeld?«

»Auch kein Verwandter!« sagte Aranda sehr laut, während er die Fäuste in den Taschen seines Kamelhaarmantels ballte.

»Pardon«, brummte der Pförtner gekränkt. »Man interessiert sich halt. Gerade bei so einem Fall …«

»Das Grab! Wo liegt das Grab?«

»Ja, also auswendig weiß ich das leider nicht. Bestattet worden ist sie vorgestern, gelt?«

»Am Dienstag, ja.«

»Ich ruf die Verwaltung an, warten Sie.« Der Pförtner ging in die Loge. Manuel Aranda wartete. Im Ausschnitt des Kamelhaarmantels steckte ein breiter Kaschmirschal. Er trug halbhohe, pelzgefütterte Schuhe, Handschuhe, eine braune Persianermütze. Er fröstelte. In der Tat, tief sonnengebräunt war das ovale Gesicht. Aranda hatte graue Augen, eine ebenmäßige Nase und volle, in der Kälte bläulich verfärbte Lippen. Er machte den Eindruck eines Mannes, der vollkommen erschüttert und verwirrt, von Ängsten und Zorn erfüllt ist. Er war sechsundzwanzig Jahre alt.

In seiner Loge erregte sich der Pförtner lauthals am Telefon.

»Was ist denn das für ein Sauladen, den ihr da habt? Va – le – rie Stein – feld! Vorgestern! Ihr werdet doch, Gott behüte, noch wissen, wo die Steinfeld liegt!« Er streichelte seine Flasche.

Hysterisch klingelnd fuhr eine rot-weiße Straßenbahn die Simmeringer Hauptstraße hinab, an deren westlicher Seite sich, viele Kilometer lang, die hohe Mauer des Friedhofs erstreckt. Ein Pferdefuhrwerk war auf die Schienen geraten und schlitterte hin und her. Der Kutscher schlug die starken Rösser, die mit ihren Hufen auf dem eisigen Pflaster ausglitten. Funken stoben. Auch am Rand der Straße türmten sich Berge von Schnee, doch hier war er schmutzig, braun, grau und schwarz. Der Kutscher bekam sein schweres Gespann endlich von den Schienen. Die Tiere hielten, erschöpft keuchend.