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Um 21 Uhr 50 war Aranda in Wien gelandet. Ein Taxi hatte ihn zu dem Luxushotel ›Ritz‹ am Kärntner-Ring gebracht, in dem sein Vater abgestiegen war.

Die Eingangshalle des ›Ritz‹ erstrahlte im Licht von drei mächtigen Kristallüstern. Marmorsäulen glänzten, an den mit Palisanderholz verkleideten Wänden hingen alte Gobelins. Aus Marmorplatten bestand der Boden, auf dem kostbare Teppiche lagen. Hinter der Eingangshalle befand sich eine zweite, noch größere. Dort gab es Club-Garnituren, Schreibecken, weitere Lüster, Stehlampen mit schweren Seidenschirmen und ein Podium, auf dem ein Fünf-Mann-Orchester leise Evergreens spielte.

Links vom Eingang befand sich die Theke des Portiers, rechts die der Reception. Bei ihr arbeiteten drei Angestellte, auf der anderen Seite drei Portiers. Aranda, dessen Taxi wartete, ging zur Reception. Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren eilte ihm entgegen.

»Señor Manuel Aranda?«

»Si.«

»Bienvenido en Viena, Señor Aranda!«

Aus dem offenen, großen Büro hinter der Reception kam ein älterer, schlanker Mann mit schlohweißem Haar heran. Seine Stimme war leise und ernst: »Buenas noches, Señor Aranda. Reciba mi mas sincera condolencia …«

»Danke. Ich spreche deutsch«, sagte Aranda. Daraufhin hießen ihn die beiden Herren noch einmal in deutscher Sprache herzlich in Wien willkommen und erlaubten sich, zu dem schweren Verlust, den er erlitten hatte, ihr Beileid auszusprechen. Der Jüngere war stellvertretender Receptionschef; als er sich vorstellte, hörte Aranda seinen Namen: »Pierre Lavoisier, mein Herr, zu Ihren Diensten.« Der Mann von der Reception stellte auch den Weißhaarigen vor, der in seinem eleganten schwarzen Anzug, der silbernen Krawatte, der Perle darin, dem weißen Hemd mit dem weichen Kragen und seiner vorbildlichen Haltung aussah, wie einem britischen Schneidermagazin entstiegen: »Graf Romath, unser Direktor.«

Eine Gruppe von Damen und Herren in Abendkleidung ging lachend an ihnen vorüber.

Graf Romath grüßte seine Gäste, sah andere Menschen näherkommen und bat: »Gehen wir zu mir, Herr Aranda. Nur einen Moment.« Er eilte schon voraus, dabei ein wenig trippelnd. Er war weit über sechzig. Sein Büro befand sich am Ende eines kurzen Ganges, hinter der Reception. Der Raum war mit großem Geschmack eingerichtet. Es gab auch hier eine Stehlampe neben einem antiken Rundtisch, brokatüberzogene Fauteuils, Chinabrücken über rotem Fußbodenvelours, schwere rote Damastvorhänge, ein Bild an der Wand, die brusthoch von Mahagonipaneelen verdeckt wurde.

Das Bild war eine großartige Kopie des ›Maskensoupers‹ von Adolph Menzel, Aranda kannte das Gemälde. In einem schiefergrauen, breiten alten Rahmen zeigte es, etwa 35 mal 40 Zentimeter groß, als Hauptfarben ein geisterhaftes Gold, viel brennendes Rot, leuchtendes Lila, Schwarz. Auf dem Schreibtisch des Büros stand eine schmale, hohe Kupferkanne. In ihr befanden sich Blüten, die an Orchideen erinnerten, weiß und bräunlich, mit leuchtend goldgelben Flecken.

»Es ist furchtbar, ganz furchtbar, mein Herr«, sagte der Graf, an seine Perle tupfend. »Niemand kann es fassen. Niemand weiß eine Erklärung.«

»Haben Sie meinen Vater noch gesehen – nach dem Tod?« fragte Aranda.

»Ja. Ich … ich wurde in jene Buchhandlung gerufen, um Ihren Herrn Vater zu identifizieren. Er trug einen Paß bei sich. Aber sie brauchten jemanden, der ihn gekannt hatte. Ein wunderbarer Mensch, Ihr Herr Vater. Ein wirklicher Gentleman. Wir haben uns ein paarmal unterhalten …«

»Worüber?«

»Über Argentinien. Ich hatte Besitz drüben, wissen Sie. Vor dem Krieg habe ich fünf Jahre da gelebt.« Der Graf fuhr mit einer Hand durch das weiße Haar. »Wir erhielten Ihr Telegramm. Sie wollen also wirklich das Appartement Ihres Herrn Vaters?«

»Ja«, sagte Aranda. In diesem Büro überkam ihn zum erstenmal jenes Schwindelgefühl, das immer wiederkehren sollte.

»Ganz wie Sie wünschen, natürlich.« Der Graf spielte mit der Perle an seiner Krawatte. »Die Polizei hat das Appartement durchsucht. Es ist nichts beschlagnahmt worden. Wir haben nach der Untersuchung selbstverständlich alles wieder in Ordnung gebracht.«

»Dann lassen Sie bitte mein Gepäck hinaufbringen.«

»Gewiß.« Der Graf trat vor. »Darf ich mir erlauben, Sie zu begleiten und Ihnen das Appartement zu zeigen?«

»Ich fahre noch einmal weg.«

»Jetzt?« Die Brauen des Direktors hoben sich.

»Ja. Mein Taxi wartet. Ist es weit bis zur …« – Aranda zog einen Zettel aus der Tasche seines Kamelhaarmantels – »… Berggasse?«

»Berggasse?«

»Das Sicherheitsbüro. Ich habe bei der Zwischenlandung in Paris den Hofrat Groll angerufen. Er sagte, er würde mich gerne noch heute empfangen, auch wenn es spät werden sollte. Ich bat um eine Unterredung. Sie können sich vorstellen, daß ich so schnell wie möglich …«

»Natürlich«, sagte der Graf. »Ich fürchte nur, selbst der Hofrat steht vor einem Rätsel. Aber Ihr Wunsch ist völlig verständlich. Ich könnte an Ihrer Stelle auch nicht zu Bett gehen, ohne wenigstens … Eine Viertelstunde mit dem Wagen ist es bis zur Berggasse, verzeihen Sie.«

»Würden Sie wohl den Hofrat anrufen und ihm sagen, daß ich unterwegs bin?«

»Sie erledigen das gleich, Herr Lavoisier.«

»Ja, Herr Direktor.« Pierre Lavoisier ging zur Tür und öffnete sie für Manuel. »Darf ich bitten?«

Der Graf verbeugte sich noch einmal zum Abschied. Allein in seinem Zimmer, wartete er eine Minute, dann versperrte er die Tür, trat schnell zu dem Bild an der Wand, suchte und fand eine verborgene Feder an der unteren Rahmenseite, drückte auf sie, bis ein kleines Stück der breiten Leiste sich senkte und ein metallenes Päckchen von der Größe einer Zigarettenschachtel sichtbar wurde, das im hohlen Innern des Rahmenstückes lag. Der Miniatursender hatte eine Reichweite von 2000 Metern. Der Empfänger befand sich knappe 1000 Meter vom Zimmer des Grafen Romath entfernt, in einem Wagen in einer Nebenstraße.

Romath zog die Antenne aus dem Sender und sprach ruhig: »Calling Sunset … Calling Sunset … This is Able Peter, Able Peter …«

»Go ahead, Able Peter«, ertönte eine leise Männerstimme aus dem winzigen Lautsprecher des Senders.

Der Graf sprach weiter Englisch: »Der neue Gast fährt jetzt gleich mit einem Taxi, das vor dem Hoteleingang parkt, in die Berggasse, zu Hofrat Groll.«

»Danke, Able Peter. Over.«

»Over«, sagte Romath. Er legte den Sender in sein Versteck und drückte wieder auf die verborgene Feder. Das Leistenteil glitt hoch. Es war ein geschnitzter und gerippter Rahmen. Die Stellen, an denen man das bewegliche Stück herausgeschnitten hatte, konnte man auch bei genauem Hinsehen nicht erkennen. Der Graf Romath sperrte die Tür wieder auf. Dann stand er reglos in dem schönen Büro und betrachtete seine Fingernägel. Während dieser Zeit war Manuel Aranda von Lavoisier überhöflich und ernst zu dem wartenden Taxi geleitet worden, das sogleich abfuhr. Einer der fünf Pagen, die noch Dienst taten, hatte den beiden die Glastür des Eingangs geöffnet, ein großer Portier den Schlag des Taxis. Während der Portier im Freien blieb, kehrte der etwa zwanzigjährige, schlanke und gut aussehende Page, der eine graue Uniform trug, mit Lavoisier in die Empfangshalle zurück und verweilte nahe der Reception, hinter deren Theke Lavoisier nun trat und ein Telefonbuch öffnete.