»Etwa einhundertdreißig Jahre. Für sie natürlich sehr viel weniger — nach ihrer Zeit sind nur ein paar Jahrzehnte vergangen.«
»Dann müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Was ist das Schlimmste?«, fragte Pascale.
»Dass wir«, begann Calvin, nur mühsam die Geduld bewahrend, »eine gewisse Aufgabe zu erfüllen haben, die mit einem gewissen Herrn zusammenhängt.« Er sah Sylveste mit schmalen Augen an. »Wie viel weiß sie überhaupt?«
»Offenbar weniger, als ich dachte.« Pascale fand das nicht komisch.
»Ich habe ihr nur so viel erzählt wie unbedingt nötig«, sagte Sylveste und sah erst seine Frau und dann die Beta-Simulation an. »Zu ihrem eigenen Schutz.«
»Oh, vielen Dank.«
»Natürlich hatte ich selbst meine Zweifel…«
»Dan, was wollen diese Leute von dir und deinem Vater?«
»Ach ja, das ist leider noch eine sehr lange Geschichte.«
»Du hast selbst gesagt, wir haben fünf Stunden Zeit. Immer vorausgesetzt natürlich, ihr beiden hört irgendwann auf, euch gegenseitig zu bewundern.«
Calvin zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das hat uns noch niemand nachgesagt. Aber vielleicht hat sie gar nicht so Unrecht, was, Sohn?«
»O doch«, sagte Sylveste. »Sie verkennt die Situation vollkommen.«
»Trotzdem solltest du ihr vielleicht etwas mehr erzählen — um sie auf dem Laufenden zu halten.«
Das Flugzeug flog eine besonders scharfe Kurve. Calvin blieb als Einziger unbeeindruckt. »Na schön«, sagte Sylveste, »obwohl ich immer noch finde, dass sie umso sicherer ist, je weniger sie weiß.«
»Warum darf ich das nicht selbst beurteilen?«, fragte Pascale.
Calvin lächelte. »Ich würde dir raten, mit unserem lieben Captain Brannigan zu beginnen.«
Und Sylveste erzählte ihr auch noch den Rest der Geschichte. Bisher war er der Frage, was Sajakis Mannschaft eigentlich von ihm wollte, tunlichst ausgewichen. Nicht dass er Pascale nicht zugebilligt hätte, die Wahrheit zu erfahren — aber er fand das Thema selbst so unerfreulich, dass er es stets gemieden hatte. Er hatte nichts gegen Captain Brannigan persönlich, er empfand sogar ein gewisses Mitgefühl für den Mann oder das, was aus ihm geworden war. Der Captain war eine einmalige Persönlichkeit mit einer ausnehmend schrecklichen Krankheit. Auch wenn er (soweit Sylveste das beurteilen konnte) derzeit nichts um sich herum wahrnahm, so war er doch in der Vergangenheit bei Bewusstsein gewesen und könnte es auch in Zukunft wieder sein, auch wenn eine Heilung zugegebenermaßen nicht sehr wahrscheinlich war. Und wenn der Captain in seiner zwielichtigen Vergangenheit womöglich irgendwelche Verbrechen begangen hätte? Nun, dann hätte er mit seinem jetzigen Zustand die alten Sünden längst tausendfach abgebüßt. Nein; niemand wünschte dem Captain etwas Böses, und die meisten Menschen wären sogar bereit, sich aktiv für ihn einzusetzen, vorausgesetzt, sie gingen dabei selbst kein Risiko ein. Sogar ein kleines Risiko hätte man vielleicht in Kauf genommen.
Aber was die Besatzung von Sylveste wollte, ging darüber weit hinaus. Sie würden ihm zumuten, sich Calvin auszuliefern; ihm sein Bewusstsein zu öffnen und die Kontrolle über seine motorischen Funktionen zu überlassen. Eine entsetzliche Vorstellung. Es war schlimm genug, sich mit Cals Beta-Simulation auseinander setzen zu müssen; so schlimm, als würde man vom Geist seines Vaters verfolgt. Er hätte das Sim schon vor Jahren zerstört, hätte es sich nicht immer wieder als nützlich erwiesen, aber schon das Wissen um seine Existenz bereitete ihm Unbehagen. Cal hätte viel zu gute Augen und seine Urteile waren allzu treffend. Er… es wusste, was Sylveste mit der Alpha-Simulation gemacht hatte, auch wenn es nie offen darüber gesprochen hatte. Aber jedes Mal, wenn Sylveste es einließ, senkte es seine Fühler tiefer in sein Gehirn. So lernte es ihn immer besser kennen und konnte seine Reaktionen immer genauer vorhersagen. Was bedeutete es für ihn, wenn sein vermeintlich freier Wille von einem Softwareprogramm, das theoretisch kein eigenes Bewusstsein hatte, so ohne weiteres kopiert werden konnte? Natürlich ging es nicht nur darum, dass ihm die Kanalisierung seine Menschlichkeit raubte. Die Prozedur war auch physisch mehr als unangenehm, denn die Signale, die seine willkürlichen Bewegungen steuerten, mussten schon an der Quelle durch einen Cocktail von Neuro-Inhibitoren ausgeschaltet werden. Er wäre gelähmt, aber zugleich in Bewegung — kaum anders, als wäre er von einem Dämon besessen. Die Erfahrung war grauenvoll gewesen, und er hatte es nicht eilig, sie zu wiederholen.
Nein, dachte er. Wenn es nach ihm ging, konnte der Captain zur Hölle fahren. Warum sollte er aufhören, ein Mensch zu sein, nur um jemanden zu retten, der länger gelebt hatte als die meisten Menschen in der Geschichte? Mitgefühl hin oder her. Man hätte den Captain schon vor Jahren sterben lassen sollen, jetzt war nicht Brannigans Leiden das größte Verbrechen, sondern das, was seine Besatzung Sylveste zumuten wollte, um es zu lindern.
Calvin sah das verständlicherweise ganz anders… für ihn war es keine Tortur, sondern eine Chance…
»Ich war natürlich der Erste«, sagte Calvin. »Damals in meiner körperlichen Existenz.«
»Der Erste wobei?«
»Der Erste, der ihm diente. Er war schon damals ein starker Chimäre. Ein Teil der Technik, die ihn zusammenhielt, war noch vor dem Transrationalismus entwickelt worden. Wie alt seine organischen Bestandteile waren, weiß Gott allein.« Er strich sich Bart und Schnurrbart, wie um sich an ihre künstlerische Form zu erinnern. »Das war natürlich vor den Achtzig. Aber ich war schon damals als Forscher bekannt, der die Grenzen der chimärischen Wissenschaften radikal hinauszuschieben suchte. Ich gab mich nicht damit zufrieden, die Techniken aus der Zeit vor dem Transrationalismus Wiederaufleben zu lassen. Ich wollte weitergehen. Ich wollte meinen Vorläufern den Staub von meinen Füßen zu schlucken geben. Ich wollte die Hülle dehnen, bis sie in Fetzen zerriss, um sie dann neu zusammenzunähen.«
»Genug von dir, Cal«, mahnte Sylveste. »Wir wollten über Brannigan sprechen, weißt du nicht mehr?«
»So etwas nennt man ›den Schauplatz vorbereiten‹, mein lieber Junge.« Calvin zwinkerte ihm zu. »Wie auch immer. Brannigan war ein extremer Chimäre, und ich war bereit, extreme Eingriffe in Betracht zu ziehen. Als er erkrankte, hatten seine Freunde keine andere Wahl, als sich um meine Dienste zu bemühen. Natürlich alles ganz inoffiziell — sogar für mich war es eine große Abwechslung. Physiologische Veränderungen interessierten mich zunehmend weniger, dafür war ich zunehmend fasziniert — meinetwegen auch besessen — von Neuraltransformationen. Genauer gesagt suchte ich einen Weg, wie man Neuralaktivitäten direkt in…« Er biss sich auf die Unterlippe und brach ab.
»Brannigan ließ sich von ihm behandeln«, fuhr Sylveste fort. »Im Gegenzug half er ihm, Beziehungen zu einigen der Reichen von Chasm City zu knüpfen; potenziellen Kandidaten für das Achtziger-Programm. Wenn ihm Brannigans Heilung gelungen wäre, hätte die Geschichte damit ihr Ende gefunden. Aber er hat die Sache verpfuscht — er tat nicht mehr als unbedingt nötig, um sich Brannigans Verbündete vom Hals zu halten. Hätte er damals seine Arbeit ordentlich gemacht, dann würden wir jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken.«
»Womit er sagen will«, unterbrach Calvin, »dass die Reparatur des Captains nicht von Dauer war. Bei dieser Art von Chimärismus war es unvermeidlich, dass mit der Zeit ein anderer Teil seines Systems behandlungsbedürftig wurde. Und die Operation, die ich an ihm ausgeführt hatte, war so komplex, dass es buchstäblich niemand anderen gab, an den sie sich hätten wenden können.«
»Deshalb kamen sie zurück«, sagte Pascale.
»Diesmal befehligte er das Schiff, das wir gleich besteigen werden.« Sylveste sah die Simulation an. »Cal war tot; die Achtzig hatten in einer öffentlichen Katastrophe geendet. Nur seine Beta-Simulation war noch übrig. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass Sajaki — der sich inzwischen dem Captain angeschlossen hatte — darüber nicht sehr glücklich war. Aber sie fanden trotz allem einen Weg.«