»Hört zu.« Zum ersten Mal seit dem Eintritt in die Atmosphäre meldete sich Volyova über Funk. »Wir sind in zwei Minuten am Treffpunkt. Ich habe soeben ein Signal aus dem Orbit erhalten. Triumvir Sajaki wurde von seinem Anzug gefunden und aufgenommen. Er ist jetzt auf dem Weg zu uns, aber da sein Anzug nicht mehr so schnell fliegen kann, braucht er noch zehn Minuten.«
»Was will er denn bei uns?«, fragte Khouri. »Warum fliegt er nicht gleich aufs Schiff zurück? Denkt er, wir schaffen das nicht, ohne dass er uns über die Schulter schaut?«
»Du machst wohl Witze?«, fragte Sudjic. »Sajaki hat seit Jahren — seit Jahrzehnten — auf diesen Moment gewartet. Er will ihn um nichts in der Welt verpassen.«
»Sylveste wird aber doch keinen Widerstand leisten?«
»Dazu müsste er sich schon unglaublich stark fühlen«, sagte Volyova. »Aber man kann nie wissen. Ich hatte im Gegensatz zu euch beiden schon mit dem Dreckskerl zu tun.«
Khouris Anzug glitt in eine Konfiguration, die der auf dem Schiff sehr ähnlich war. Die Flügelmembran war jetzt ganz verschwunden, die bisher flach anliegenden Stummelflügel wurden wieder zu ordentlich abgesetzten und mit Gelenken versehenen Armen. An den Enden hatten sie sich zu fäustlingsähnlichen Greifklauen gespalten, die sich aber für feinere Arbeiten jederzeit zu voll entwickelten Händen umgestalten konnten. Khouri kippte nach hinten, bis sie nahezu senkrecht stand, ohne jedoch die Vorwärtsbewegung aufzugeben. Der Anzug hielt die Höhe jetzt allein mit den Triebwerken. Der Staub störte ihn nicht im Geringsten.
»Noch eine Minute«, sagte Volyova. »Höhe sechshundert Fuß. Sylveste müsste jeden Moment visuell erfasst werden. Und vergesst nicht, wir suchen auch nach seiner Frau; die beiden sind sicher nicht weit voneinander entfernt.«
Khouri hatte das fahlgrüne Falschfarbenbild satt und schaltete auf Normalsicht zurück. Die anderen Anzüge waren kaum zu erkennen. Von den Canyonwänden und von größeren Felsformationen oder Spalten waren sie jetzt weit entfernt. Das Gelände war nach allen Seiten auf Tausende von Metern hin flach, nur von vereinzelten Felsblöcken oder Rinnen unterbrochen. Doch selbst wenn sich im Sturm eine Lücke auftat, wenn das Chaos für einen Moment zur Ruhe kam, sah man nicht weiter als zehn bis zwanzig Meter, und über dem Boden wirbelte der Staub unermüdlich im Kreis herum. Im Innern des Anzugs war es dagegen kühl und vollkommen still. Dadurch erschien die Situation in einer Weise irreal, die gefährlich werden konnte. Der Anzug konnte auf Wunsch auch Außengeräusche übertragen, aber daraus hätte sie auch nicht mehr entnehmen können, als dass ringsum ein höllischer Sturm tobte.
Khouri schaltete auf Fahlgrün zurück.
»Ilia«, sagte sie. »Ich bin noch immer völlig wehrlos. Das macht mich allmählich nervös.«
»Geben Sie ihr was zum Spielen«, sagte Sudjic. »Was kann sie schon anstellen? Soll sie doch ein paar Felsen abschießen, während wir uns Sylveste holen.«
»Du kannst mich mal.«
»Gleichfalls, Khouri. Dass ich versuche, dir einen Gefallen zu tun, hast du wohl noch nicht kapiert. Oder glaubst du, du kriegst Ilia allein rum?«
»Na schön, Khouri«, sagte Volyova. »Ich aktiviere die Minimalkontrolle über das Verteidigungsprogramm. Recht so?«
Nicht unbedingt, nein. Jetzt konnte sich Khouris Anzug zwar autonom gegen Angriffe von außen verteidigen — er konnte sich bis zu einem gewissen Grad sogar präventiv darauf vorbereiten —, aber Khouri hatte noch immer nicht den Finger am Abzug. Wenn sie Sylveste töten wollte, ein Plan, den sie noch immer nicht ganz aufgegeben hatte, konnte das zum Problem werden.
»Danke, ja«, sagte sie. »Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich nicht in lauten Jubel ausbreche.«
»War mir ein Vergnügen…«
Eine Sekunde später berührten alle fünf Anzüge federleicht den Boden. Khouri spürte ein Zittern, als die Triebwerke ausgeschaltet wurden. Wieder nahm der Anzug eine Reihe von winzigen anatomischen Veränderungen vor. Die Statusanzeige schaltete von Flug- auf Bodenbetrieb um, das bedeutete, dass sie normal gehen konnte, wenn sie wollte. In dieser Phase hätte sie den Anzug auch verlassen können, aber ohne Schutzkleidung hätte sie im Schmirgelsturm nicht lange überlebt. Die Stille im Innern des Anzugs war ihr sehr viel lieber, auch wenn sie dadurch nicht hautnah am Geschehen teilhaben konnte.
»Wir teilen uns auf«, sagte Volyova. »Khouri: ich übertrage die Steuerung der beiden leeren Einheiten auf Ihren Anzug; sie folgen ihnen von jetzt an auf Schritt und Tritt. Wir drei ziehen uns jeweils hundert Schritt auseinander. Aktive Sensorsuche im gesamten elektromagnetischen Spektrum aktivieren. Wenn Sylveste in der Nähe ist, werden wir das Svinoi schon finden.«
Die beiden leeren Anzüge waren bereits zu Khouri geschlurft, um sich wie herrenlose Hunde an ihre Fersen zu heften. Sie begriff, dass sie den Kürzeren gezogen hatte; Volyova überließ ihr die Aufsicht über die leeren Anzüge zum Trost dafür, dass sie nicht besser bewaffnet war. Aber Jammern half nichts. Sie hatte für ihren Wunsch nach wirksamen Waffen nur eine vernünftige Begründung: sie brauchte etwas, um Sylveste zu töten. Doch damit ließe sich Volyova vermutlich nicht restlos überzeugen. Immerhin sollte man nicht vergessen, dass die Anzüge auch ohne Bewaffnung tödlich sein konnten. Bei der Ausbildung auf Sky’s Edge hatte man ihr gezeigt, wie ein Anzugträger mit brutaler Gewalt gegen einen Feind vorgehen und ihn buchstäblich entzweireißen konnte.
Sudjic und Volyova entfernten sich in verschiedene Richtungen und Khouri sah ihnen nach. Die Anzüge stapften trügerisch langsam dahin, die typische Gangart im Bodenbetrieb. Trügerisch deshalb, weil sie notfalls laufen konnten wie die Gazellen. Im Moment ging es jedoch nicht um Schnelligkeit. Sie schaltete das fahlgrüne Overlay aus und kehrte zum Normalbild zurück. Sudjic und Volyova waren schon nicht mehr zu erkennen, aber das überraschte sie nicht. Trotz gelegentlicher Lücken im Sturm konnte sie im Allgemeinen nur bis zum Ende ihres ausgestreckten Armes sehen.
Plötzlich erschrak sie. Im Staub hatte sich etwas — jemand — bewegt. Es war nur ein Moment gewesen; sie war nicht einmal sicher, ob sie wirklich etwas gesehen hatte. Schon war sie dabei, eine harmlose Erklärung zu finden, die Erscheinung als Staubwirbel abzutun, der momentan fast wie ein Mensch ausgesehen hatte, als sie die Gestalt zum zweiten Mal sah.
Diesmal war sie deutlicher zu erkennen. Sie zögerte, wie um Khouris Neugier zu reizen, dann trat sie aus dem Gewoge und stand vor ihr.
»Lange nicht gesehen«, sagte die Mademoiselle. »Ich dachte, Sie würden sich freuen, mich wiederzusehen.«
»Wo, zum Teufel, sind Sie die ganze Zeit gewesen?«
»Träger«, sagte der Anzug, »ich kann die letzte gedachte Äußerung nicht interpretieren. Könnten Sie vielleicht eine andere Formulierung wählen?«
»Sagen Sie ihm, er soll nicht auf Sie hören«, riet der Staubgeist. »Ich kann nicht lange bleiben.«
Khouri befahl dem Anzug, ihre Gedanken so lange zu ignorieren, bis sie die Sperre mit einem Codewort wieder aufhob. Der Anzug fügte sich widerwillig, zeigte aber deutlich sein Missfallen, so als sei ein solches Ansinnen derart ungewöhnlich, dass er sich ernsthaft überlegen müsse, ob er die Zusammenarbeit in Zukunft fortsetzen könne.
»Schön«, sagte sie dann. »Wir sind ganz unter uns, Mademoiselle. Darf ich jetzt erfahren, wo Sie gewesen sind?«
»Gleich«, sagte die Projektion. Sie hatte sich inzwischen stabilisiert, aber die Wiedergabe war nicht so wirklichkeitsgetreu, wie Khouri es inzwischen gewöhnt war. Die Mademoiselle sah aus wie eine flüchtige Skizze oder eine verwackelte Fotografie von sich selbst. Immer wieder ging eine Kräuselwelle über sie hin und verzerrte das Bild. »Erst sollte ich einiges zu Ihrer Aufrüstung tun, sonst müssen Sie noch mit bloßen Händen auf Sylveste losgehen. Also mal sehen; ich greife auf die Primärsysteme des Anzugs zu… umgehe Volyovas codierte Restriktionen… übrigens bemerkenswert einfach — ich bin geradezu enttäuscht, dass sie mich nicht mehr fordert, vor allem, nachdem ich wahrscheinlich zum letzten Mal…«