Die anderen Besatzungsmitglieder konnte Sylveste nicht identifizieren. Zunächst war da noch eine dritte Person gewesen… aber die würde er auch nicht mehr kennen lernen, dafür war es zu spät. Die beiden anderen waren zwar noch am Leben, aber eine davon war dem Tod gefährlich nahe — um sie bemühte sich Sajaki —, und die andere stand schweigend und offenbar unter Schock etwas abseits. Seltsamerweise zielte die unverletzte Person mit irgendeiner Anzugwaffe auf Sylveste, obwohl der unbewaffnet war und auch gar nicht die Absicht hatte, sich der Gefangennahme zu widersetzen.
»Sie wird überleben«, sagte Sajaki einen Augenblick später. Sein Anzug musste sich mit dem Anzug der verletzten Person verständigt haben. »Aber sie muss schleunigst aufs Schiff zurück. Dort können wir auch feststellen, was hier unten tatsächlich geschehen ist.«
»Es war Sudjic«, sagte eine Stimme. Sylveste kannte sie nicht. Eine Frauenstimme. »Sudjic hat versucht, Ilia zu töten.«
Dann war die Verwundete also das Miststück höchstpersönlich: Triumvir Ilia Volyova.
»Sudjic?«, fragte Sajaki. Das Wort hing in der Luft, als könne — oder wolle — Sajaki nicht glauben, was die Unbekannte sagte. Sekundenlang war nur das Heulen des Windes zu hören, dann wiederholte er den Namen mit fallender Intonation. Jetzt hatte er es akzeptiert. »Sudjic. Ja, darin steckt eine gewisse Logik.«
»Ich glaube, sie wollte…«
»Dazu kommen wir später, Khouri«, wehrte Sajaki ab. »Wir werden uns genügend Zeit nehmen — natürlich werden Sie mir auch zu meiner vollen Zufriedenheit erklären müssen, welche Rolle Sie bei der ganzen Sache gespielt haben. Aber jetzt haben andere Dinge Vorrang.« Er sah auf die verletzte Volyova nieder. »Der Anzug hält sie noch für einige Stunden am Leben, aber er ist nicht mehr imstande, sie zum Schiff zu bringen.«
»Ich nehme doch an«, sagte Sylveste, »dass Sie sich überlegt hatten, auf welchem Wege wir den Planeten verlassen sollten?«
»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Dan«, versetzte Sajaki. »Reizen Sie mich nicht zu sehr. Ich musste viele Hindernisse überwinden, bis ich Sie gefunden hatte. Aber das würde mich nicht abhalten, Sie zu töten, nur um mir eine gewisse Genugtuung zu verschaffen.«
Sylveste hatte nichts anderes erwartet — er hätte sich mehr Sorgen gemacht, wenn Sajaki anders reagiert und die Schwierigkeiten der Suche heruntergespielt hätte. Aber der Mann wäre ein Narr gewesen, hätte er selbst auch nur ein Wort seiner Drohung geglaubt. Er hatte mindestens die Reise von Yellowstone hierher und vielleicht noch mehr auf sich genommen, um Sylveste zu finden. Wie viele Menschenleben dabei geopfert worden waren, ließ sich gar nicht abschätzen, von den vielen Jahren ganz zu schweigen.
»Wie schön für Sie«, sagte Sylveste mit falscher Freundlichkeit. »Aber als Mann der Wissenschaft sollten Sie für meinen Forscherdrang Verständnis haben. Ich muss die Grenzen Ihrer Toleranz ausloten.« Plötzlich schnellte sein Arm unter dem Windschutzmantel hervor. Ein kleiner Gegenstand steckte zwischen zwei Fingern seiner behandschuhten Hand. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Frau ihre Anzugwaffe auf ihn abgefeuert hätte, weil sie glaubte, er wolle seinerseits schießen. Das Risiko war er eingegangen. Aber was er in der Hand hielt, war keine Waffe, sondern nur ein kleines gequanteltes Speicherelement.
»Sehen Sie das?«, fragte er. »Das ist Calvins Beta-Simulation. Sie hatten mich gebeten, sie mitzubringen. Sie brauchen sie, nicht wahr? Sie brauchen sie ganz dringend.«
Sajaki sah ihn wortlos an.
»Aber Sie können mich mal«, sagte Sylveste und zerdrückte die Simulation. Der Sturm wehte die Krümel davon.
Achtzehn
Im Orbit um Resurgam
2566
Sie hoben von Resurgam ab und schossen durch den Sturm nach oben. Als der Himmel klar wurde, entdeckte Sylveste ein Objekt über sich, das zunächst so klein wie ein Stückchen Kohle und nur deshalb zu sehen war, weil es gelegentlich die Sterne verdeckte. Aber es wuchs immer weiter und entpuppte sich schließlich als annähernd konisch. Was anfangs nur wie ein tiefschwarzer Fleck ausgesehen hatte, zeigte im schwachen Licht der Welt, um die es kreiste, gewisse Unregelmäßigkeiten in seiner Oberfläche. Das Lichtschiff schwoll so unwahrscheinlich an, bis es die Hälfte des Himmels füllte, und hörte auch dann nicht auf zu wachsen. Es hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum verändert. Sylveste wusste — ohne davon sonderlich beeindruckt zu sein —, dass solche Schiffe sich ständig verwandelten, aber im Allgemeinen nahmen sie eher unauffällige Veränderungen im Innern vor als radikale Umgestaltungen der Außenhülle (wobei auch das alle paar hundert Jahre einmal vorkam). Vielleicht, dachte er flüchtig, hatte es gar nicht mehr die Möglichkeiten, die er sich von ihm erhoffte — doch dann fiel ihm wieder ein, was es Phoenix angetan hatte. Eigentlich konnte man das kaum vergessen, denn der Planet zeigte immer noch überdeutlich die Spuren des Angriffs; mitten auf Resurgams Antlitz prangte eine graue Lotosblüte der Verwüstung.
Im schwarzen Schiffsrumpf hatte sich eine Tür aufgetan. Sie wirkte zunächst viel zu klein, um auch nur einen der Anzüge aufzunehmen, geschweige denn alle fünf, doch aus der Nähe zeigte sich, dass sie mindestens zwanzig Meter breit war und leicht Platz für alle bot. Sylveste, seine Frau und die beiden Ultras — einer trug die verletzte Volyova — schwebten hinein und die Tür schloss sich hinter ihnen.
Sajaki brachte sie in einen Lagerraum, wo sie die Anzüge ablegen und wieder normal atmen konnten. Die Luft hatte einen Beigeschmack, der schlagartig die Erinnerung an seinen letzten Besuch wachrief. Er hatte vergessen, wie das Schiff roch.
»Sie warten hier«, sagte Sajaki, während sich die Anzüge selbsttätig aufrichteten und an eine Wand stellten. »Ich muss mich um meine Kollegin kümmern.«
Er kniete nieder und betastete Volyovas Panzerung. Sylveste wollte ihm schon raten, sich nicht allzu eifrig um Triumvir Volyova zu bemühen, doch dann entschied er sich dagegen. Womöglich hatte er Sajakis Geduld schon zu sehr strapaziert, als er das Cal-Sim zerdrückte. »Was ist da unten eigentlich passiert?«
»Ich weiß es nicht.« Das war typisch für Sajaki. Wie alle wirklich klugen Menschen, die Sylveste jemals kennen gelernt hatte, hätte er niemals vorgegeben, etwas zu begreifen, was ihm unbegreiflich war. »Ich weiß es nicht, und im Augenblick — im Augenblick! — spielt es auch keine Rolle.« Er kontrollierte eine Anzeige an Volyovas Anzug. »Ihre Verletzungen sind zwar schwer, aber offenbar nicht tödlich. Wenn man ihr genügend Zeit lässt, wird sie wieder gesund. Außerdem sind Sie jetzt an Bord. Alles andere ist zweitrangig.« Er wandte sich an die andere Frau, die eben aus ihrem Anzug geschlüpft war, und sah sie mit schief gelegtem Kopf an. »Etwas lässt mir trotzdem keine Ruhe, Khouri…«
»Was?«, fragte sie.
»Spielt keine Rolle… im Moment.« Sein Blick kehrte zu Sylveste zurück. »Übrigens, die Schau, die Sie mit dem Sim abgezogen haben — glauben Sie ja nicht, das hätte mich beeindruckt.«
»Das ist schade. Wie wollen Sie mich jetzt dazu bringen, den Captain zu heilen?«
»Mit Calvins Hilfe natürlich. Wissen Sie nicht mehr, dass ich eine Sicherheitskopie gezogen habe, als Sie damals mit Calvin an Bord waren? Sie mag ein wenig veraltet sein, aber die chirurgischen Fähigkeiten sind unverändert.«
Ein guter Bluff, dachte Sylveste, aber mehr auch nicht. Allerdings existierte tatsächlich so etwas wie eine Sicherheitskopie… sonst hätte er das Sim niemals zerstört.