»Aber genau das hast du getan. Du hast Pascale erlaubt, dich für Abstieg in die Finsternis zu kopieren.« Sie war dabei so geschickt vorgegangen, dass er jahrelang nichts geahnt hatte. Er hatte erlaubt, dass Calvin ihr bei der Erstellung der Biografie behilflich war. Dafür hatte sie ihm seinen Herzenswunsch erfüllt und ihm ermöglicht, sich weiter mit den Amarantin zu beschäftigen, auf die Forschungsergebnisse zuzugreifen und Verbindung zu der ständig schwindenden Gruppe seiner Anhänger zu halten.
»Es war seine Idee«, sagte Pascale.
»Ja… das gebe ich zu.« Cal holte tief Luft und schien zu überlegen, obwohl die Calvin-Simulation sehr viel schneller ›denken‹ konnte als jeder naturbelassene Mensch. »Die Zeiten waren gefährlich — natürlich nicht schlimmer als jetzt, soweit ich seit meiner Erweckung feststellen konnte —, aber doch recht unsicher. Deshalb wollte ich vorsichtshalber dafür sorgen, dass ein Teil von mir die Zerstörung des Originals überlebte. Ich dachte dabei allerdings nicht an eine Kopie — eher an eine Skizze, ein Konterfei, das vielleicht nicht einmal vollständig Turing-kompatibel zu sein brauchte.«
»Und warum hast du deine Meinung geändert?«
»Pascale baute Teile von mir in einen bestimmten Zeitraum der Biografie ein — es ging um einige Monate. Sie wählte ein raffiniertes Codierungsverfahren. Aber als sie so viel vom Original kopiert hatte, dass die Teile in Interaktion treten konnten, waren sie — oder vielmehr ich — nicht mehr so angetan von der Vorstellung, cybernetischen Selbstmord zu begehen, nur um Recht zu behalten. Tatsächlich fühlte ich mich lebendiger — war ich mehr ich selbst — als je zuvor.« Er schenkte seinem Publikum ein Lächeln. »Natürlich wurde mir bald klar, woher das kam. Pascale hatte mich in ein leistungsfähigeres Computersystem kopiert, in das Rechenzentrum der Regierung in Cuvier, wo Abstieg zusammengestellt wurde. Das System war an mehr Archive und Netzwerke angeschlossen, als du selbst mir damals in Mantell je zugestanden hattest. Ich hatte zum ersten Mal etwas gefunden, mit dem sich mein überragender Verstand sinnvoll beschäftigen konnte.« Er sah allen tief in die Augen und fügte dann ganz leise hinzu: »Das war übrigens ein Scherz.«
»Exemplare der Biografie waren überall erhältlich«, fuhr Pascale fort. »Sajaki hatte bereits eins erworben, ohne zu ahnen, dass es eine Version von Calvin enthielt. Aber wie hast du es eigentlich herausgefunden?« Jetzt sah sie Sylveste an. »Hat Cals kopierte Version es dir verraten?«
»Nein, und ich bin nicht einmal sicher, ob er das gewollt hätte, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Ich bin selbst dahinter gekommen. Die Biografie war zu umfangreich für die darin enthaltene Menge an Simulationsdaten. Oh, ich weiß, du bist sehr umsichtig vorgegangen — du hast Cal mit möglichst niederwertigen Bits verschlüsselt und in die Dateien eingefügt — aber es war einfach zu viel von ihm da, das ließ sich nicht so einfach verstecken. Abstieg war fünfzehn Prozent zu lang. In den ersten Monaten dachte ich, du hättest eine ganze Schicht von geheimen Szenarien darin versteckt, Teile meines Lebens, die du eingefügt hattest, obwohl sie nicht zur Dokumentation freigegeben waren, damit jeder, der hartnäckig genug suchte, sie auch finden konnte. Aber dann fiel mir auf, dass die Überkapazitäten gerade groß genug waren für eine Kopie von Cal, und das passte ins Bild. Ganz sicher war ich natürlich nie…« Er sah die Projektion an. »Du würdest vermutlich behaupten, du seiest der echte Cal und ich hätte nur die Kopie gelöscht?«
Cal hob streitlustig die Hand. »Nein; das wäre viel zu stark vereinfacht. Immerhin war ich einmal diese Kopie. Aber was ich damals war — und was die Kopie auch blieb, bis du sie zerstört hast — war nur ein Schatten dessen, was ich jetzt bin. Sagen wir doch einfach, ich hätte eine Erleuchtung gehabt, und belassen wir es dabei.«
»Aha…« Sylveste trat vor und klopfte sich nachdenklich mit dem Finger an die Unterlippe. »In diesem Fall hätte ich dich aber nicht wirklich getötet?«
»Nein«, gestand Calvin mit falscher Freundlichkeit. »Du hast mich nicht getötet. Aber es hätte sein können, und nur darauf kommt es an. Aus dieser Sicht, mein lieber Junge, bist du leider immer noch ein ruchloser Vatermörder.«
»Ist das nicht rührend?«, fragte Hegazi. »Es geht doch nichts über ein schönes, altmodisches Familientreffen.«
Sie setzten den Weg zum Captain fort. Khouri war nicht zum ersten Mal hier unten und schon ein wenig mit der Umgebung vertraut, aber sie fühlte sich trotzdem unwohl; die infektiöse Masse, die ihren Kälteschlaf tank jederzeit sprengen konnte, drängte sich unaufhaltsam in ihr Bewusstsein.
»Allmählich sollte ich doch erfahren, was Sie eigentlich von mir wollen«, sagte Sylveste.
»Versteht sich das nicht von selbst?«, fragte Sajaki. »Oder glauben Sie, wir hätten Sie so unerbittlich verfolgt, um uns nach Ihrem Befinden zu erkundigen?«
»Zuzutrauen wäre es Ihnen«, sagte Sylveste. »Ihr Verhalten war schon damals unberechenbar, warum sollte es jetzt anders sein? Und außerdem, tun wir doch nicht so, als ob da unten wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen wäre.«
»Was soll das heißen?«, fragte Khouri.
»Nun sagen Sie bloß nicht, Sie sind noch immer nicht dahinter gekommen.«
»Wovon reden Sie?«
»Es ist nicht wirklich passiert.« Sylveste musterte sie mit seinen leeren Augen; sie kam sich vor wie unter dem prüfenden Blick eines automatischen Kontrollsystems. »Vielleicht auch nicht«, fuhr er fort. »Vielleicht sind Sie tatsächlich ahnungslos. Wer sind Sie überhaupt?«
»Sie werden noch genügend Zeit haben, um alle Fragen zu stellen, die Ihnen am Herzen liegen«, sagte Hegazi. Sie waren jetzt nur noch einen Steinwurf vom Captain entfernt und das machte den Chimären nervös.
»Nein«, sagte Khouri. »Ich will es jetzt wissen. Was meinen Sie mit ›Es ist nicht wirklich passiert‹?«
»Ich spreche von der Siedlung«, sagte Sylveste langsam und ruhig, »die Volyova so einfach ausradiert hat.«
Khouri überholte die Prozession und versperrte ihr den Weg. »Das müssen Sie mir erklären.«
»Das hat Zeit«, sagte Sajaki und trat vor, um sie beiseite zu schieben. »Jedenfalls so lange, bis Sie mir Ihre Rolle in dem Spiel zu meiner vollen Zufriedenheit erklärt haben, Khouri.« Der Triumvir beäugte sie schon seit längerem mit tiefem Misstrauen. Zwei Todesfälle in ihrem Beisein konnte in seinen Augen kein Zufall mehr sein. Volyova war außer Gefecht gesetzt — und die Mademoiselle schwieg. Damit war niemand mehr da, der sie beschützt hätte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Sajakis Misstrauen die Oberhand gewann und er drastische Maßnahmen ergriff.
Aber Sylveste widersprach: »Nein. Warum nicht gleich? Ich finde, jeder hier sollte wissen, was gespielt wird. Sajaki; Sie waren nicht nur auf Resurgam, um sich ein Exemplar der Biografie zu besorgen, nicht wahr? Wozu denn auch? Bevor ich es Ihnen sagte, wussten Sie ja gar nicht, dass Abstieg eine Kopie von Cal enthielt. Sie dachten nur, die Biografie könnte sich bei den Verhandlungen mit mir als nützlich erweisen. Aber sie war nicht der Grund für Ihren Aufenthalt auf dem Planeten. Sie hatten ganz andere Absichten.«
»Ich wollte auch Informationen sammeln«, sagte Sajaki vorsichtig.
»Mehr als das. Gewiss, Sie waren auf der Suche nach Informationen. Aber Sie wollten auch Informationen einschleusen.«
»Über Phoenix?«, fragte Khouri.
»Nicht nur über den Ort selbst. Den hat es nie gegeben.« Sylveste legte eine dramatische Pause ein, dann fuhr er fort. »Phoenix war eine Geisterstadt, eine Erfindung von Sajaki. Es war nicht einmal auf den alten Karten in Mantell verzeichnet, es tauchte erst auf, als wir sie nach den Originalen in Cuvier aktualisierten. Daraufhin gingen wir einfach davon aus, dass es sich um eine neue Siedlung handelte, die auf den früheren Karten noch nicht eingetragen war. Das war natürlich dumm — ich hätte das Manöver gleich durchschauen müssen. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass jemand die Originale manipuliert hatte.«