»Ich habe keine Ahnung, wovon die Albträume handelten«, sagte Volyova. »Ich weiß nur, dass sie für Nagorny — in dessen Kopf ohnehin schon mehr Gespenster ihr Unwesen trieben, als die meisten von uns verkraftet hätten — zu viel waren.«
»Und was haben Sie dagegen getan?«
»Ich habe alles ausgetauscht — das gesamte Interface-System für den Leitstand und sogar die Implantate in seinem Kopf. Aber es half nichts. Die Albträume blieben.«
»Sie sind sicher, dass sie mit dem Leitstand zu tun hatten?«
»Ich wollte es zunächst nicht wahrhaben, aber es gab eine klare Übereinstimmung zu den Perioden im Kampfsitz.« Sie zündete sich die nächste Zigarette an. Die Glut an der Spitze war das Einzige, was in der Umgebung des Captain Wärme verbreitete. Die Entdeckung einer neuen Schachtel Zigaretten war einer der wenigen Glücksmomente in den letzten Wochen gewesen. »Also habe ich das System noch einmal umgestellt, aber auch das half nichts. Es ging ihm höchstens noch schlechter.« Sie hielt inne. »Daraufhin habe ich Sajaki von meinen Problemen erzählt.«
»Und wie hat Sajaki reagiert?«
»Ich sollte die Experimente zumindest bis zu unserer Ankunft vor Yellowstone unterbrechen. Nagorny sollte ein paar Jahre im Kälteschlaf verbringen, vielleicht würde ihn das von seiner Psychose heilen. Ich dürfte gerne weiter am Leitstand herumbasteln, aber ohne Nagorny noch einmal auf den Sitz zu lassen.«
»Klingt sehr vernünftig. Aber Sie haben den Rat natürlich nicht befolgt.«
Volyova nickte. Es war absurd, aber sie war erleichtert, dass der Captain ihr Verbrechen erraten hatte, ohne dass sie ihm selbst davon erzählen musste.
»Ich bin ein Jahr vor den anderen aufgewacht«, sagte sie. »Ich wollte die Zeit nützen, um das System zu überwachen und mich um Sie zu kümmern. Damit war ich einige Monate lang auch beschäftigt. Dann beschloss ich, Nagorny zu wecken.«
»Für weitere Experimente?«
»Ja. Bis gestern.« Sie zog gierig an ihrer Zigarette.
»Das ist wie beim Zahnarzt, Ilia. Was ist gestern passiert?«
»Nagorny ist verschwunden.« Jetzt war es heraus. »Er hatte einen besonders schlimmen Anfall und ging auf mich los. Ich setzte mich zur Wehr, aber er konnte entkommen. Er muss irgendwo auf dem Schiff sein. Ich habe keine Ahnung, wo.«
Der Captain überlegte lange. Sie konnte sich vorstellen, was er dachte. Das Schiff war groß, und es gab viele Bereiche, die nicht überwacht werden konnten, weil die Sensoren ausgefallen waren. Wenn sich jemand gezielt versteckte, wäre er noch schwerer zu finden.
»Sie werden ihn suchen müssen«, sagte der Captain endlich. »Wenn Sajaki und die anderen aufwachen, darf er nicht mehr frei herumlaufen.«
»Und wenn ich ihn finde?«
»Dann müssen Sie ihn wahrscheinlich töten. Wenn Sie sauber arbeiten, können Sie die Leiche in den Kälteschlaftank zurücklegen und eine Panne arrangieren.«
»Ich soll also einen Unfall vortäuschen?«
»Ja.« Der Teil des Gesichts, den sie durch das Helmfenster sehen konnte, war wie immer völlig ausdruckslos. Die Züge des Captains waren starr wie bei einer Statue.
Der Rat war gut — sie hätte auch selbst darauf kommen können, aber das Problem hatte sie völlig in Anspruch genommen. Bis jetzt war sie jeder Konfrontation mit Nagorny aus dem Weg gegangen, aus Angst, in eine Situation zu kommen, in der sie ihn töten musste. Das hatte sie für untragbar gehalten — aber ob eine Lösung tragbar war oder nicht, hing immer davon ab, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtete.
»Danke, Captain«, sagte Volyova. »Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie jetzt wieder herunterkühlen.«
»Sie kommen doch wieder, Ilia? Unsere kleinen Unterhaltungen bedeuten mir sehr viel.«
»Auch ich möchte nicht mehr darauf verzichten«, sagte sie. Dann befahl sie ihrem Armband, seine Hirntemperatur um fünfzig Millikelvin abzusenken; das genügte für einen tiefen, traumlosen Schlaf. Hoffentlich.
Volyova rauchte schweigend ihre Zigarette zu Ende, dann wandte sie sich ab und schaute den langen, schwarzen Korridor entlang. Irgendwo da draußen — in irgendeinem Teil des Schiffes — lauerte Nagorny. Sie wusste, dass er einen tiefen Groll auf sie hegte. Auch er war jetzt krank; krank im Kopf.
Wie ein Hund, den man einschläfern musste.
»Ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte Sylveste, als der letzte Stein der Sarkophagverkleidung entfernt war und die oberen zwei Meter des Obelisken frei lagen.
»Nämlich?«
»Eine Karte des Pavonis-Systems.«
»Wie komme ich nur darauf, dass Sie das schon vorher erraten hatten?«, fragte Pascale und schielte durch ihre Schutzbrille auf das komplizierte Motiv, zwei leicht gegeneinander verschobene Scharen konzentrischer Kreise. Stereoskopisch verschmolzen, fielen sie zu einer Schar zusammen, die in einigem Abstand über dem Obsidian schwebte. Kein Zweifel, es waren Planetenbahnen. Im Zentrum befand sich die Sonne Delta Pavonis, erkennbar an der entsprechenden Amarantin-Glyphe — einem fünfzackigen Stern, der stark an das menschliche Sternensymbol erinnerte. Dann folgten maßstabsgetreu die fünf Bahnen aller größeren Himmelskörper im System, wobei Resurgam mit dem Amarantin-Symbol für ›Welt‹ bezeichnet war. Auch die Monde der größeren Planeten waren präzise eingetragen, und damit war zweifelsfrei erwiesen, dass es sich nicht um eine zufällig entstandene Figur handelte.
»Ich hatte einen Verdacht«, sagte Sylveste. Er war erschöpft, aber die durchwachte Nacht — und das Risiko — hatten sich gelohnt. Sie hatten viel länger gebraucht, um den zweiten Meter des Obelisken freizulegen, und manchmal hatte der Sturm geheult wie ein ganzes Hexengeschwader vor dem tödlichen Angriff. Aber — nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal — er hatte nicht ganz die Stärke erreicht, die Cuvier vorhergesagt hatte. Jetzt war das Schlimmste überstanden. Zwar wehten immer noch schwarze Staubwolken über den Himmel, aber das erste Morgenrot vertrieb die Finsternis. Sie waren wohl doch mit dem Leben davongekommen.
»Aber das ändert nichts«, sagte Pascale. »Wir wussten immer, dass sie etwas von Astronomie verstanden; das Diagramm beweist nur, dass sie irgendwann das heliozentrische Universum entdeckt hatten.«
»Es beweist noch mehr«, widersprach Sylveste vorsichtig. »Nicht alle von diesen Planeten sind mit bloßem Auge erkennbar, selbst wenn man die Physiologie der Amarantin berücksichtigt.«
»Dann haben sie eben Teleskope verwendet.«
»Vor kurzem haben Sie noch von steinzeitlichen Aliens gesprochen. Und jetzt trauen Sie ihnen zu, dass sie Teleskope herstellen konnten?«
Er glaubte, sie lächeln zu sehen, obwohl die Atemmaske ihr Gesicht verdeckte. Doch dann schaute sie zum Himmel auf. Unterhalb der Staubschicht war eine helle Raute über die Wälle geglitten.
»Ich glaube, da kommt jemand«, sagte sie.
Rasch kletterten sie die Leiter hinauf und kamen atemlos oben an. Der Wind wehte zwar nicht mehr mit Spitzengeschwindigkeiten wie vor einigen Stunden, aber auf der Oberfläche war immer noch jeder Schritt eine Strapaze. Die Ausgrabungsstätte war verwüstet, Scheinwerfer und Gravitationsscanner waren umgefallen, überall lagen Instrumente verstreut.
Über ihnen zog das Flugzeug seine Bahnen und suchte nach einem Landeplatz. Sylveste sah sofort, dass es aus Cuvier kommen musste; Mantell hatte keine Maschinen dieser Größe. Flugzeuge waren auf Resurgam Mangelware, denn nur mit ihnen konnte man Entfernungen über mehrere hundert Kilometer zurücklegen. Alle noch im Einsatz befindlichen Flugzeuge waren in den ersten Tagen nach Gründung der Kolonie von Servomaten aus heimischen Materialien hergestellt worden. Aber bei der Meuterei waren die Produktionsmaschinen zerstört oder gestohlen worden, folglich war alles, was sie hinterlassen hatten, für die Kolonie unersetzlich. Kleinere Unfallschäden konnten die Flugzeuge selbst regenerieren, und sie brauchten auch keine Wartung — aber durch Sabotage oder Unvorsichtigkeit konnten sie dennoch zerstört werden. Im Lauf der Jahre war der Bestand der Kolonie immer weiter geschrumpft.