»Nein, das kann nicht sein. Wir wissen, dass er den Leitstand nicht verlassen kann. Und zwischen dem Leitstand und der Kommunikationszentrale gibt es keine physische Verbindung.«
»Jetzt vielleicht schon«, sagte Khouri.
»Aber wenn dem so ist…« Jetzt war das Weiße in ihren Augen zu sehen; zwei leuchtende Halbmonde im Dämmerlicht der Brücke. »Zwischen der Kommunikationszentrale und dem Rest des Schiffes existiert keine logische Barriere. Wenn Sonnendieb wirklich so weit gekommen ist, kann er auf alles zugreifen.«
Lange sprach niemand ein Wort; alle — sogar Sylveste — brauchten offenbar eine gewisse Zeit, um sich den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Khouri versuchte zu ergründen, was er dachte, aber er gab auch jetzt nicht preis, inwieweit er sich hatte überzeugen lassen. Vermutlich hielt er die ganze Sonnendieb-Geschichte noch immer für ein Zeichen von unterbewusstem Verfolgungswahn, ein Hirngespinst, mit dem sie zuerst Volyova und später auch Pascale angesteckt hatte.
Und an das ein Teil von ihm trotz aller Beweise noch immer nicht glauben wollte.
Wo waren denn die Beweise? Mit Ausnahme des wiederaufgenommenen Signals — mit allen seinen Konsequenzen — gab es kein Anzeichen dafür, dass Sonnendieb sich über den Leitstand hinaus ausgedehnt hatte. Wenn dem aber so war…
Volyova brach das Schweigen. »Sie«, sagte sie und richtete ihr Gewehr auf Hegazi. »Sie da, Svinoi. Das ist Ihr Werk, nicht wahr? Sajaki ist aus dem Rennen, und Sylveste hat nicht das nötige Wissen — folglich bleiben Sie als Einziger übrig.«
»Ich weiß nicht einmal, wovon Sie sprechen.«
»Sie haben Sonnendieb geholfen. Sie waren es, geben Sie es zu!«
»Nehmen Sie sich zusammen, Triumvir.«
Khouri wusste nicht mehr, auf wen sie das Plasmagewehr richten sollte. Sylveste schien ebenso erschüttert wie Hegazi; mit einem solchen Verhör hatte wohl keiner gerechnet.
»Hören Sie«, sagte Khouri. »Er mag Sajaki in den Arsch gekrochen sein, seit ich an Bord bin, aber deshalb muss er doch keine solchen Dummheiten machen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Hegazi. »Glaube ich.«
»Sie sind noch nicht aus dem Schneider«, sagte Volyova. »Noch lange nicht. Khouri hat Recht; es wäre eine riesige Dummheit gewesen. Aber das heißt noch lange nicht, dass Sie dazu nicht fähig wären. Sie hatten die nötigen Fachkenntnisse. Und Sie sind ebenfalls ein Chimäre — vielleicht steckt Sonnendieb ja auch in Ihnen. Und deshalb ist es mir einfach zu gefährlich, Sie in meiner Nähe zu haben.«
Sie nickte Khouri zu. »Khouri; bring ihn in eine der Luftschleusen.«
»Sie wollen mich töten«, sagte Hegazi, als sie ihn mit dem Lauf des Plasmagewehrs durch den überschwemmten Korridor vor sich her trieb. Vor ihnen stoben die Pförtnerratten auseinander. »Das haben Sie doch vor, nicht wahr? Sie wollen mich ins All stoßen.«
»Volyova will Sie nur in sicherem Gewahrsam haben, damit Sie keinen Unfug anstellen können«, sagte Khouri. Sie hatte keine Lust zu einem ausgedehnten Gespräch mit ihrem Gefangenen.
»Was immer sie mir unterstellt, ich habe es nicht getan. So ungern ich es zugebe, aber dazu fehlen mir die nötigen Fachkenntnisse. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Er ging ihr auf die Nerven, aber sie ahnte, dass er nicht lockerlassen würde, bis sie ihm antwortete.
»Ich bin nicht sicher, dass Sie es getan haben«, sagte sie. »Schließlich hätten Sie schon alles in die Wege leiten müssen, bevor Sie überhaupt wissen konnten, dass Volyova ihre Waffe sabotieren wollte. Seither hatten Sie keine Gelegenheit mehr; Sie waren die ganze Zeit auf der Brücke.«
Sie hatten die nächste Schleuse erreicht. Es war nur ein kleiner Raum, der gerade einen Menschen im Raumanzug aufnehmen konnte. Wie fast alles in diesem Bereich des Schiffes waren die Schalter an der Tür verschmutzt und rostig und mit Schimmelflecken übersät. Aber wie durch ein Wunder funktionierten sie noch.
»Wieso tun Sie das?«, fragte Hegazi, als die Tür sich summend öffnete und Khouri ihn in die enge, schwach erleuchtete Zelle stieß. »Wenn Sie nicht glauben, dass ich der Schuldige bin?«
»Weil ich Sie nicht leiden kann«, sagte sie und schloss die Tür von außen.
Dreißig
Cerberus/Hades
an der Heliopause von Delta Pavonis
2566
Als sie endlich allein in ihrer Kabine waren, sagte Pascale: »Du kannst nicht weitermachen, Dan. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Er war müde; sie waren alle müde, aber sein Verstand lief auf Hochtouren, und Schlaf war das Letzte, wonach ihm zumute war. Aber wenn der Brückenkopf so lange standhielt, dass er wie geplant ins Innere von Cerberus einsteigen konnte, war jetzt auf viele Stunden, womöglich auf Tage hinaus die letzte Gelegenheit, sich noch einmal richtig auszuschlafen. Er musste so wach und reaktionsfähig sein wie noch nie in seinem Leben, wenn er die fremde Welt betrat. Doch davon suchte ihn Pascale offenbar mit allen Mitteln abzubringen.
»Dazu ist es jetzt viel zu spät«, sagte er matt. »Wir haben uns schon angemeldet; Cerberus wurde beschädigt. Die Welt weiß, dass wir da sind; sie weiß auch schon etwas von unserer Wesensart. Wenn ich sie jetzt betrete, ändert das nichts mehr, aber ich kann sehr viel mehr über sie erfahren, als Volyovas klapprige Roboterspione mir jemals sagen werden.«
»Du weißt nicht, was dich da unten erwartet, Dan.«
»O doch. Eine Antwort auf die Frage, was mit den Amarantin geschehen ist. Begreifst du denn nicht, dass die Menschheit diese Information braucht?«
Er sah, dass er sie, wenn auch nur theoretisch, überzeugt hatte. Dennoch gab sie zu bedenken: »Und wenn sie nun vernichtet wurden, weil sie genauso neugierig waren wie du jetzt? Du hast selbst gesehen, was mit der Lorean geschehen ist.«
Wieder dachte er an Alicia, die bei diesem Angriff ums Leben gekommen war. Warum war er eigentlich nicht bereit gewesen, sich die Zeit zu nehmen, um ihren Leichnam aus dem Wrack zu bergen? Schon jetzt empfand er seinen Befehl, sie mit dem Brückenkopf untergehen zu lassen, als eiskalt und fremd. Für einen Moment war ihm, als hätte nicht er ihn gegeben, auch Calvin nicht, sondern eine andere Instanz, die sich hinter ihnen verbarg. Der Gedanke erschreckte ihn, und er erstickte ihn mit bewusster Betroffenheit, als zerdrücke er ein Insekt.
»Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind, nicht wahr?«, sagte er. »Dann wissen wir endlich Bescheid. Und selbst wenn es uns das Leben kostet, werden andere erfahren, was geschehen ist — die Bewohner von Resurgam oder sogar die Menschen in einem anderen System. Du musst dir darüber im Klaren sein, Pascale, dass ich bereit bin, das Risiko einzugehen.«
»Nicht nur aus reiner Neugier, nicht wahr?« Sie sah ihn an, als wollte sie ihm eine Antwort abfordern. Er starrte schweigend zurück — wohl wissend, wie einschüchternd seine blicklosen Augen sein konnten — bis sie fortfuhr. »Khouri wurde an Bord gebracht, um dich zu töten. Das hat sie selbst zugegeben. Volyova sagte, ihr Auftraggeber sei möglicherweise Carine Lefevre gewesen.«
»Das ist nicht nur unmöglich, das ist eine Beleidigung.«
»Aber es könnte trotzdem die Wahrheit sein. Und es könnte mehr dahinter stecken als ein persönlicher Rachefeldzug. Vielleicht ist Lefevre tatsächlich tot, aber jemand hat ihre Gestalt angenommen, ihren Körper geerbt, was auch immer — jemand, der weiß, mit welcher Gefahr du spielst. Kannst du eine solche Möglichkeit nicht wenigstens in Betracht ziehen?«
»Was vor Lascailles Schleier geschah, kann nichts mit dem Schicksal der Amarantin zu tun haben.«
»Wieso bist du dir da so verdammt sicher?«
Jetzt wurde er wütend. »Weil ich dort war!«, schrie er. »Weil ich Lascaille in den Raum der Erkenntnis folgte und weil man mir dort zeigte, was man Lascaille gezeigt hatte.« Er dämpfte seine Stimme und fasste Pascales Hände. »Sie waren uralt und so fremd, dass mich fröstelte. Sie drangen in mein Bewusstsein ein. Ich habe sie gesehen… sie hatten keine Ähnlichkeit mit den Amarantin.«