Zum ersten Mal, seit sie Resurgam verlassen hatten, dachte er an diesen Moment zurück. Als sein beschädigtes Kontaktmodul den Rand des Schleiers erreichte, hatte er in jäher Erkenntnis aufgeschrien. Die Schleierweber waren in sein Bewusstsein gekrochen wie uralte Versteinerungen; Abgründe hatten sich aufgetan. Lascaille hatte die Wahrheit gesprochen. Sie mochten biologisch fremd sein, mochten einen instinktiven Abscheu erregen, weil sie von dem, was der Mensch für die angemessene Erscheinungsform eines intelligenten Wesens hielt, so ungeheuer weit entfernt waren, aber in der Dynamik ihres Denkens standen sie den Menschen sehr viel näher, als ihre Gestalt vermuten ließ. Im ersten Moment beunruhigte ihn diese seltsame Dichotomie — doch es konnte gar nicht anders sein. Wie hätten die Musterschieber sein Gehirn so verdrahten können, dass er wie ein Schleierweber dachte, wenn von den grundlegenden Denkmustern her keinerlei Ähnlichkeit bestanden hätte? Die entsetzliche Übelkeit fiel ihm wieder ein, die der Kontakt ausgelöst hatte — der Schwall von Erinnerungen, der über ihn hereinbrach und ihm einen kurzen Eindruck von der schier endlosen Geschichte der Schleierweber vermittelte. Jahrmillionen lang hatten sie die Galaxis durchforstet, als die noch jünger war, und alle gefährlichen Spielsachen eingesammelt, die andere, noch ältere Zivilisationen zurückgelassen hatten. Diese sagenhaften Schätze waren fast in Reichweite; nur die Membran des Schleiers trennte ihn noch davon… fast hätte er es geschafft, sich hinein zu schmuggeln. Und dann…
Dann teilte sich etwas wie ein Vorhang, die Wolken glitten auseinander — der Augenblick war so kurz, dass er ihn bis jetzt beinahe vergessen hatte. Etwas offenbarte sich, das besser verborgen geblieben wäre — verborgen hinter vielen Identitätsschichten. Die Identität, die Erinnerungen einer längst ausgestorbenen Rasse… alles nur Tarnung…
Im Innern des Schleiers wohnte etwas ganz anderes, und für seine Existenz gab es ganz andere Gründe…
Doch die Erinnerung entzog sich, ließ sich nicht mehr fassen, und dann war er wieder allein mit Pascale und hatte nur den bitteren Nachgeschmack des Zweifels im Mund.
»Versprich mir, dass du nicht gehst«, sagte sie.
»Darüber reden wir morgen früh«, erwiderte Sylveste.
Er erwachte in seiner Kabine. Die Müdigkeit saß ihm noch immer in den Knochen. Er hatte nicht genug Schlaf bekommen.
Etwas hatte ihn geweckt, aber zunächst sah oder hörte er nichts. Dann bemerkte er, dass der Holoschirm neben seinem Bett so fahl leuchtete wie ein Spiegel im Mondschein.
Vorsichtig, um Pascale nicht zu wecken, aktivierte er die Verbindung. Die Gefahr war nicht groß; sie schlief tief und fest. Das Gespräch vor dem Einschlafen hatte ihr wohl die nötige innere Ruhe gegeben.
Sajakis Gesicht erschien auf dem Schirm, im Hintergrund sah man die Instrumente der Krankenstation. »Sind Sie allein?«, fragte er leise.
»Meine Frau ist hier«, flüsterte Sylveste. »Sie schläft.«
»Dann will ich mich kurz fassen.« Er hob die verletzte Hand. Die Schutzmembran war ausgefüllt, das Handgelenk hatte seine gewohnte Form zurückgewonnen, aber die Hülle leuchtete noch und darunter herrschte rege Aktivität. »Ich bin so weit genesen, dass ich die Station verlassen kann. Aber ich habe nicht die Absicht, Hegazis Schicksal zu teilen.«
»Das wird schwierig werden. Volyova und Khouri haben alle Waffen, und sie haben dafür gesorgt, dass wir keine weiteren in die Hand bekommen.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Volyova wäre vermutlich leicht zu überreden, auch mich einzusperren. Meine Drohungen gegen das Schiff scheinen sie nicht beeindruckt zu haben.«
»Sie setzt voraus, dass Sie niemals so weit gehen würden.«
»Und wenn sie nun Recht hätte?«
Sajaki schüttelte den Kopf.
»Das spielt alles keine Rolle mehr. In wenigen Tagen — höchstens fünf — wird ihre Waffe versagen. So viel Zeit haben Sie, um ins Innere des Planeten zu gelangen. Und tun Sie nicht so, als ob Sie durch die kleinen Roboter irgendetwas in Erfahrung bringen könnten.«
»Das ist mir auch schon klar geworden.«
Neben ihm regte sich Pascale.
»Dann mache ich Ihnen folgenden Vorschlag«, sagte Sajaki. »Ich führe Sie hinein. Nur wir beide, niemand sonst. Wir brauchen nicht einmal ein Raumschiff. Wir können zwei Anzüge vom gleichen Typ nehmen wie der, mit dem Sie von Resurgam hierher gekommen sind. In knapp einem Tag können wir Cerberus erreichen. Damit bleiben Ihnen zwei Tage, um hinein zu kommen, ein Tag, um sich umzusehen, und ein weiterer Tag, um den Planeten auf dem gleichen Weg wieder zu verlassen. Denn bis dahin wissen Sie natürlich, wie das geht.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich begleite Sie. Wie wir nach meiner Ansicht mit dem Captain verfahren sollten, sagte ich Ihnen ja bereits.«
Sylveste nickte. »Sie glauben, im Innern von Cerberus etwas zu finden, das ihn heilen kann.«
»Irgendwo muss ich anfangen.«
Sylveste sah sich um. Sajakis Flüstern war so leise gewesen wie der Wind in den Bäumen und in der Kabine herrschte eine geradezu übernatürliche Stille. Er sah seine Umgebung wie in einer Laterna Magica. Auf Cerberus tobte im Moment ein erbitterter Kampf, dachte er. Dort prallten Maschinen, die allerdings fast alle kleiner waren als Bakterien, wütend aufeinander. Der Lärm, den sie machten, war für menschliche Ohren nicht zu hören. Aber die Schlacht fand statt und Sajaki hatte Recht: in wenigen Tagen würden die zahllosen Maschinentruppen des Planeten Cerberus Volyovas gewaltige Belagerungsmaschine zerstört haben. Jede Sekunde, die er noch zauderte, war eine Sekunde weniger, die er im Innern des Planeten verbringen konnte, und eine Sekunde, um die sich seine Rückkehr verzögerte. Je später, desto gefährlicher, denn die Brücke würde sich schließen. Wieder regte sich Pascale, aber er spürte, dass sie noch in tiefen Träumen lag. Sie war nicht gegenwärtiger als die ineinander verschlungenen Vögel an den Wänden der Kabine; sie konnte ebenso wenig zum Leben erweckt werden.
»Das kommt alles sehr plötzlich«, sagte er.
»Sie warten doch schon Ihr ganzes Leben auf diesen Moment.« Sajaki sprach jetzt etwas lauter. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie noch nicht so weit wären. Dass Sie Angst hätten, Sie könnten etwas finden.«
Sylveste begriff, dass er sich entscheiden musste, bevor ihm die ungewöhnliche Situation noch vollends zu Bewusstsein gekommen war.
»Wo treffen wir uns?«
»Außerhalb des Schiffs«, sagte Sajaki und erklärte, warum das nötig war; warum es zu gefährlich war, sich vorher zu treffen, warum Sajaki nicht riskieren konnte, Volyova, Khouri oder gar Sylvestes Frau über den Weg zu laufen. »Sie halten mich immer noch für krank«, erklärte er und rieb sich die Membran über dem verletzten Handgelenk. »Aber wenn sie mich außerhalb der Krankenstation ertappen, geht es mir wie Hegazi. Von hier aus kann ich in wenigen Minuten einen Anzug erreichen, ohne Schiffszonen betreten zu müssen, die meine Anwesenheit noch registrieren können.«
»Und ich?«
»Gehen Sie zum nächsten Fahrstuhl. Ich werde dafür sorgen, dass er Sie zu einem Anzug in Ihrer Nähe bringt. Weiter brauchen Sie nichts zu tun. Der Anzug erledigt alles Übrige.«
»Sajaki, ich…«
»Sie müssen nur in zehn Minuten draußen sein. Ihr Anzug bringt Sie zu mir.« Sajaki lächelte zum Abschied. »Und ich rate Ihnen dringend davon ab, Ihre Frau zu wecken.«
Sajaki hielt Wort; der Fahrstuhl und der Anzug schienen genau zu wissen, wohin Sylveste zu gehen hatte. Er begegnete niemandem und niemand störte ihn, als der Anzug seine Maße nahm, sich entsprechend konfigurierte und sich zärtlich um ihn schmiegte.