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Verzweifelt sah sie sich um, hoffte mit allen Fasern ihres Herzens, dass Volyova ihnen gefolgt sei und ihr sagen könne, was sie tun solle. Aber der Korridor war leer bis auf den schrecklichen Luftstrom, der sie von den Beinen zu reißen drohte.

»Ilia…«

Das verdammte Weib hatte genau das getan, was sie befürchtet hatten; sie war allen Beteuerungen zum Trotz zurückgeblieben.

Im letzten Licht sah sie den Rumpf erzittern wie einen Resonanzboden. Und dann verlor der Sturm, der sie vom Spinnenraum wegreißen wollte, plötzlich an Kraft; eine gleich starke Dekompression in der Mitte des Frachtraums wirkte ihm entgegen. Khouri sah sich um, ihr Blick trübte sich bereits, dann traf sie die Kälte und sie stürzte auf eine Lücke zu, wo eben noch Metall gewesen war…

»Wo, zum…«

Kaum hatte Khouri den Mund aufgemacht, da wusste sie auch schon, wo sie war — im Innern des Spinnenraums. Ein Irrtum war ausgeschlossen, dazu hatte sie schon zu viel Zeit hier verbracht. Behaglichkeit umgab sie; Wärme, Sicherheit, Stille; ein ganzes Universum entfernt von dem Ort, wo sie gewesen war, bevor ihre Erinnerungen abrissen. Ihre Hände schmerzten; sie schmerzten sogar ziemlich heftig — aber davon abgesehen fühlte sie sich so wohl, dass es eigentlich gar nicht mit rechten Dingen zugehen konnte; sie wusste ja noch, dass sie aus dem Schoß eines sterbenden Schiffes ins All gestürzt war…

»Wir haben es geschafft«, sagte Pascale, aber es klang alles andere als triumphierend. »Noch nicht bewegen — du hast dir die Hände ziemlich böse verbrannt.«

»Verbrannt?« Khouri lag auf einer der samtbezogenen Liegen, die an allen Wänden montiert waren. Ihr Kopf ruhte auf dem weich gepolsterten, elegant geschwungenen Messingkopfteil. »Was ist passiert?«

»Du bist gegen den Spinnenraum gekracht; der Sog hat dich dort hingezogen. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, an der Außenseite bis zur Schleuse hinaufzuklettern. Du warst mindestens fünf oder sechs Sekunden im Vakuum. Das Metall hatte so schnell abgekühlt, dass du mit den Händen daran kleben geblieben bist.«

»Ich kann mich an nichts erinnern.« Aber ein Blick auf ihre Hände genügte zum Beweis dafür, dass Pascale die Wahrheit sprach.

»Sobald du an Bord warst, bist du in Ohnmacht gefallen. Ich konnte es dir nicht verdenken.«

Ihre Stimme hatte immer noch diesen völlig freudlosen Unterton, als sei alles, was Khouri getan hatte, sinnlos gewesen. Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Khouri. Sie konnten bestenfalls noch eine Möglichkeit finden, mit dem Spinnenraum auf Cerberus zu landen und zu sehen, wie lange sie sich gegen die Verteidigungsanlagen in der Kruste behaupten konnten. Das wäre immerhin interessant. Sonst konnten sie nur warten, bis das Lichtschiff sie fand und abschoss, oder bis ihre Reserven zu Ende waren und sie an der Kälte oder an Sauerstoffmangel starben. Sie zermarterte sich das Gehirn. Wie lange, hatte Volyova gesagt, konnte der Spinnenraum allein überleben?

»Ilia…?«

»Sie hat es nicht mehr geschafft«, sagte Pascale. »Sie ist tot. Ich habe alles mit angesehen. Du warst kaum an Bord, da ist das Shuttle einfach explodiert.«

»Du glaubst, Volyova hat die Explosion mit Absicht ausgelöst, um uns eine Chance zu geben? Damit man uns für ein Wrackteil halten würde?«

»Wenn ja, sind wir ihr vermutlich zu Dank verpflichtet.«

Khouri schlüpfte aus ihrer Jacke, zog das Hemd aus und die Jacke wieder an und riss das Hemd in schmale Streifen. Damit verband sie die geschwärzten, mit Blasen bedeckten Hände. Es tat höllisch weh, aber sie kannte solche Schmerzen aus dem Training, wenn man sich an einem Seil verbrannt oder mit schweren Waffen hantiert hatte. Sie biss die Zähne zusammen, akzeptierte den Schmerz und drängte ihn gleichzeitig zurück. Es gab dringendere Probleme, mit denen sie sich auseinander setzen musste.

Probleme, neben denen die Aussicht, sich vom Schmerz überwältigen zu lassen, geradezu verlockend war. Aber sie widerstand der Versuchung. Sie musste sich zumindest klarmachen, in welcher Lage sie sich befand, auch wenn es offenbar nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Sie musste wissen, auf welche Weise das Unvermeidliche passieren würde.

»Wir werden sterben, nicht wahr?«

Pascale Sylveste nickte. »Aber nicht so, wie du glaubst. Darauf gehe ich jede Wette ein.«

»Du meinst, wir landen nicht auf Cerberus?«

»Nein; nicht einmal wenn wir wüssten, wie dieses Ding zu bedienen ist. Wir werden auch nicht in den Planeten hineinrasen, und um in eine Umlaufbahn zu gehen, ist unsere Geschwindigkeit wahrscheinlich zu hoch.«

Als Pascale Cerberus erwähnte, stellte Khouri fest, dass die Halbkugel vor den Sichtfenstern weiter entfernt zu sein schien als vor dem Angriff. Sie mussten mit der vollen Anfluggeschwindigkeit des Shuttles, also mit mehreren Hundert Kilometern pro Sekunde, ungebremst daran vorbeigerast sein.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Ich kann nur raten«, sagte Pascale, »aber ich glaube, wir stürzen auf Hades zu.« Sie nickte zum vorderen Sichtfenster hin. Dort war ein winziger roter Lichtpunkt zu sehen. »Die Richtung könnte ungefähr stimmen, nicht wahr?«

Khouri wusste natürlich, dass Hades ein Neutronenstern war, und sie wusste auch, dass es im Umkreis eines solchen Sterns keine Sicherheit gab. Man hielt sich entweder fern davon, oder man starb — so lauteten die Regeln, und keine Macht im Universum konnte sie außer Kraft setzen.

Die Schwerkraft war der Herr, für die Schwerkraft gab es keine mildernden Umstände, sie kümmerte sich nicht um Gerechtigkeit und nahm auch keine Gnadengesuche in letzter Minute entgegen, um daraufhin ihre Gesetze widerwillig aufzuheben. Die Schwerkraft erdrückte und im Umkreis eines Neutronensterns erdrückte sie alles. Hier wurden Diamanten zu Wasser, und Berge verdichteten sich auf ein Millionstel ihrer früheren Höhe. Man brauchte diesen Kräften gar nicht allzu nahe zu kommen, um von ihnen zermalmt zu werden.

Das konnte man schon in ein paar hunderttausend Kilometern Entfernung haben.

»Ja«, sagte Khouri. »Du hast vermutlich Recht. Und das ist nicht gut.«

»Nein«, sagte Pascale. »Das hatte ich mir auch schon gedacht.«

Achtunddreißig

Im Inneren von Cerberus

2567

Sylveste taufte diesen innersten Raum den Saal der Wunder.

Der Name erschien ihm angemessen: er war seit einer knappen Stunde hier (eine Schätzung, denn er achtete längst nicht mehr auf die Zeit) und hatte seither nichts gesehen, was die Bezeichnung ›Wunder‹ nicht verdient hätte. Für vieles war sie sogar eher ungenügend. Ein ganzes Menschenleben würde nicht ausreichen, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erfassen, was dieser Raum enthielt; was er war. Sylveste empfand nicht zum ersten Mal so, nicht zum ersten Mal wurde ihm ein kurzer Blick auf ein gewaltiges, aber noch unerschlossenes Wissenspotenzial gewährt, das weder codifiziert noch in eine Theorie gefasst war. Aber alle früheren Erlebnisse dieser Art waren nur blasse Vorläufer dessen gewesen, was er jetzt fühlte.

Er konnte nur wenige Stunden hier verweilen, wenn er nicht jede Hoffnung auf Rückkehr begraben wollte. Was ließ sich in wenigen Stunden erreichen? Nüchtern betrachtet nur sehr wenig, aber er hatte die Aufzeichnungsgeräte seines Anzugs, und er hatte seine Augen. Er musste es zumindest versuchen. Wenn er diese Gelegenheit ungenützt vorübergehen ließ, würde ihm die Geschichte niemals verzeihen. Wichtiger noch, er selbst würde sich niemals verzeihen.

Er steuerte den Raumanzug auf die beiden Objekte in der Mitte des Raumes zu, die ihn völlig in ihren Bann gezogen hatten: den Spalt mit dem Licht aus dem Jenseits und den Edelstein, der ihn umkreiste. Als er näher kam, gerieten die Wände in Bewegung. Es war, als würde er in den Rotationsbereich der Objekte hineingezogen; als würde der Raum selbst seine Festigkeit verlieren und sich zum Wirbel krümmen. Sein Anzug bestätigte dies zirpend mit genauen Analysen der Veränderungen des Substrats; Quantenzahlen tickten sich in neue, unerforschte Regionen vor. Ähnlich war es ihm auf dem Weg zu Lascailles Schleier ergangen. Wie damals hielt er es für ganz normal, dass sein ganzes Wesen transkribiert, in eine andere Sprache übersetzt wurde, je näher er dem Edelstein und seinem strahlenden Partner kam.