Sie konnten die Schleier nicht einfach öffnen und hinausschauen — das wäre zu riskant gewesen, denn die Geduld der Unterdrücker-Maschinen war schier unerschöpflich. Ihre scheinbare Passivität konnte eine Falle sein, ein Spiel, um die Amarantin — die Schleierweber — aus ihrem Versteck auf das Schlachtfeld des offenen Weltalls zu locken, wo sie mit Leichtigkeit zu zerstören waren. Damit wäre nach einer Million Jahre die Säuberungsaktion beendet und diese Spezies vollends ausgerottet gewesen.
Doch nach und nach tauchten andere auf.
Vielleicht hatte dieser Abschnitt der Galaxis etwas an sich, das die Evolution von Wirbeltieren begünstigte, vielleicht war es auch nur Zufall, doch die Schleierweber sahen in den Menschen, die soeben die Raumfahrt entdeckt hatten, einen Abglanz dessen, was sie einst gewesen waren. Auch ihre psychischen Schwächen fanden sie wieder: den Drang nach Einsamkeit und den Wunsch nach Kameradschaft; die Sehnsucht nach den Tröstungen einer Gesellschaft und nach den leeren Weiten des Alls; die innere Zerrissenheit, die sie immer weiter nach draußen trieb.
Philip Lascaille war als Erster zu ihnen gekommen, vor dem Schleier, der jetzt seinen Namen trug.
Die Verwerfungen der Raumzeit im Umkreis des Schleiers hatten sein Bewusstsein aufgerissen, alles durcheinander geworfen und neu zusammengesetzt. Entstanden war ein sabberndes Zerrbild des einstigen Lascaille. Aber dieses Zerrbild zeigte Züge von Genialität. Die Schleierweber hatten ihm etwas eingepflanzt: das nötige Wissen, um jemand anderen sehr viel näher heranzuholen… und die Lüge, um diesem anderen das Abenteuer schmackhaft zu machen.
Kurz vor seinem Tod hatte sich Lascaille dem jungen Dan Sylveste anvertraut.
Gehen Sie zu den Schiebern, hatte er gesagt.
Denn auch die Amarantin hatten einst die Schieber aufgesucht und dem Schieber-Ozean ihre Neuralstrukturen aufgeprägt. Mit diesen Strukturen ließ sich die Raumzeit um den Schleier stabilisieren; sie ermöglichten es, in die immer dichter werdenden Falten vorzudringen, ohne von den Spannungen zerrissen zu werden. Nachdem Sylveste das Schieber-Transform in sich aufgenommen hatte, konnte er auf den Stürmen in die Tiefen des Schleiers reiten.
Und konnte ihn lebend wieder verlassen.
Aber er war verändert.
Er hatte etwas mitgebracht, ein Etwas, das sich Sonnendieb nannte, aber das war nur ein mythischer Name. Was seither in ihm lebte, war eher eine Kollage; eine künstliche Persönlichkeit, untrennbar mit dem Schleier verwoben, eingepflanzt von Wesen, die Sylveste als Abgesandten benützten und durch ihn Einfluss auf den Raum außerhalb des undurchdringlichen Raumzeitvorhangs zu gewinnen suchten.
Was sie von ihm wollten, war im Rückblick ganz einfach zu erklären.
Er sollte nach Resurgam reisen, wo die Gebeine ihrer leiblichen Vorfahren begraben waren.
Er sollte die Anlage der Unterdrücker finden.
Er sollte sich ihr so weit nähern, dass die Anlage, falls sie noch funktionierte, zum Leben erwachte und ihn als Angehörigen einer neu erstandenen, intelligenten Spezies identifizierte.
Wenn die Unterdrücker noch aktiv waren, hätten sie damit ein neues Opfer für ihren Vernichtungsfeldzug gefunden: die Menschheit.
Wenn nicht, konnten sich die Schleierweber gefahrlos nach draußen wagen.
Das bläuliche Licht, das ihn umgab, wirkte jetzt böse auf ihn; unbeschreiblich böse. Womöglich war er einfach dadurch, dass er diesen Planeten betrat, schon zu weit gegangen; hatte zu viel Intelligenz gezeigt und die Unterdrücker-Anlage überzeugt, dass er einer Spezies angehörte, die ausgerottet werden musste.
Sylveste verabscheute das, wozu die Amarantin geworden waren, und er hasste sich selbst dafür, dass er der Beschäftigung mit ihnen so große Teile seines Lebens geopfert hatte. Aber was konnte er daran jetzt noch ändern? Für solche Bedenken war es viel zu spät.
Der Tunnel war breiter geworden, und er befand sich — immer noch ohne seinen Anzug bewusst steuern zu können — in einem Raum mit vielfach geschliffenen Wänden, der ebenfalls in diesen faulig blauen Schein getaucht war. Überall hingen seltsame Gebilde, die ihn an Rekonstruktionen vom Innern einer menschlichen Zelle erinnerten. Geradlinige Formen herrschten vor, mehrfach ineinander verschlungene Rechtecke, Quadrate und Parallelogramme bildeten Hängeskulpturen, die keiner bekannten ästhetischen Richtung zuzuordnen waren.
»Was ist das?«, flüsterte er.
»Sieh sie als Puzzles«, sagte Sonnendieb. »Sie sollen in einem intelligenten Forschungsreisenden den Drang wecken, sie zu vervollständigen, aus den Formen die geometrischen Konfigurationen zu bilden, die in den Teilen angelegt sind.«
Sylveste verstand, was Sonnendieb meinte. Gleich bei der nächsten Figur ließen sich zum Beispiel die Formen mit wenigen Handgriffen zu einem Tesserakt zusammensetzen… es juckte ihn fast in den Fingern…
»Ich werde es nicht tun«, sagte er.
»Das brauchst du auch nicht.« Zum Beweis ließ Sonnendieb die Gliedmaßen von Sylvestes Anzug nach der Figur greifen. Sie war ihm viel näher, als er zunächst geschätzt hatte. Die Finger fassten das erste Stück und drehten es mühelos in die richtige Stellung. »Es gibt noch andere Tests in anderen Räumen«, sagte das Alien. »Deine geistigen Prozesse und — später — auch deine Biologie werden einer gründlichen Prüfung unterzogen. Die biologische Untersuchung wird vermutlich nicht angenehm sein. Aber sie ist auch nicht tödlich. Das würde andere Vertreter deiner Art abschrecken, aus denen sich ein umfassenderes Bild des Feindes gewinnen ließe.« Das klang fast schon humorvoll; als habe sich das Wesen lange genug in menschlicher Gesellschaft befunden, um etwas von den Verhaltensweisen der Menschen anzunehmen. »Leider bist du der einzige Vertreter der Menschheit, der diese Anlage jemals betreten wird. Aber du wirst ein ausgezeichnetes Versuchsobjekt abgeben, das kann ich dir versichern.«
»Da irrst du dich«, sagte Sylveste.
Eine Spur von Unruhe schlich sich in Sonnendiebs unerbittliche Geiststimme. »Bitte erkläre mir das.«
Sylveste ging nicht sofort auf den Wunsch ein. »Calvin«, sagte er. »Ich muss dir etwas sagen.« Noch während er sprach, war er sich nicht sicher, warum er das tat und an wen er sich eigentlich wandte. »Als wir im weißen Licht waren — als wir in der Hades-Matrix alles miteinander teilten —, da erkannte ich etwas, das ich schon vor Jahren hätte erfahren sollen.«
»Du meinst über dich.«
»Ja, über mich. Ich habe erkannt, was ich bin.« Sylveste hätte am liebsten geweint, er wusste, dass dies seine letzte Chance dazu war, aber seine Augen gestatteten ihm keine Tränen, das hatten sie von Anfang an nicht getan. »Und warum ich dich nicht hassen kann, wenn ich nicht auch mich selbst hassen will. Falls ich tatsächlich jemals Hass auf dich verspürt haben sollte.«
»Es war eigentlich ein Fehlschlag, nicht wahr? Was ich aus dir gemacht habe. Ich hatte dich nicht so geplant. Aber ich muss gestehen, dass ich mit deiner Entwicklung gar nicht unzufrieden bin.« Er verbesserte sich. »Ich meine natürlich mit meiner Entwicklung.«
»Ich bin froh, dass ich es erfahren habe — wenn auch erst so spät.«
»Was willst du jetzt tun?«
»Das weißt du doch schon. Haben wir nicht alles miteinander geteilt?« Sylveste lachte. »Seither kennst du auch meine Geheimnisse.«
»Aha. Du beziehst dich auf ein ganz bestimmtes kleines Geheimnis?«
»Was?«, zischte Sonnendieb. Seine Stimme knisterte wie die Radiogeräusche ferner Quasare.
Sylveste wandte sich wieder an das Alien. »Du hast doch sicher die Gespräche auf dem Schiff mit angehört. Als ich zuließ, dass alle meine Drohung für einen Bluff hielten.«
»Welche Drohung?«, fragte Sonnendieb. »Womit hast du geblufft?«
»Mit dem heißen Staub in meinen Augen«, sagte Sylveste.
Diesmal lachte er noch lauter. Und dann gab er eine Serie von Neuralbefehlen, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte. Sie initiierten einen ganzen Wasserfall von Ereignissen in den Schaltungen seiner Augen und — ganz zuletzt — in den winzigen geschützten Antimaterie-Stäubchen, die darin eingebettet waren.