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Khouri sah ihm zum ersten Mal persönlich — oder was man hier darunter zu verstehen hatte — in die Augen. Es waren menschliche Augen.

Im ersten Moment schien er verärgert über die Störung, doch dann wurden seine Züge weicher, und ein leichtes Lächeln spielte über sein Gesicht. »Wie schön, dass Sie sich die Zeit für einen Besuch bei uns genommen haben«, sagte er. »Ich hoffe, Pascale hat Ihnen alles erklärt, was Sie wissen wollten.«

»Das meiste.« Khouri ging ein paar Schritte weiter. Die Kopie des Arbeitszimmers beeindruckte durch ihre Präzision. Eine Simulation von dieser Qualität hatte sie noch nie gesehen. Und doch — der Gedanke war ebenso beeindruckend wie beängstigend — bestand jedes einzelne Objekt in diesem Raum aus nuklearer Materie von so hoher Dichte, dass unter normalen Umständen schon der kleinste Briefbeschwerer auf diesem Schreibtisch über den halben Raum hinweg einen tödlichen Schwerkraftsog hätte ausüben müssen. »Aber nicht alles. Wie kommen Sie hierher?«

»Pascale hat sicher erwähnt, dass es noch einen zweiten Zugang zur Matrix gibt.« Er streckte ihr die flachen Hände entgegen. »Diesen Weg habe ich gefunden. Das ist alles. Und ich bin ihn gegangen.«

»Und was wurde aus Ihrem…«

»Meinem wahren Ich?« Das Lächeln hatte jetzt eine gewisse Selbstironie, als amüsiere er sich über einen Witz, der zu subtil war, um ihn mit jemandem zu teilen. »Es dürfte nicht überlebt haben. Aber das kümmert mich wenig, wenn ich ehrlich bin. Mein wahres Ich steht jetzt vor Ihnen. Ein anderes hat es nie gegeben.«

»Was geschah im Innern von Cerberus?«

»Das ist eine sehr lange Geschichte, Khouri.«

Und dann erzählte er, wie er ins Innere der Welt gelangt war, nur um dort erkennen zu müssen, dass Sajakis Anzug leer war; wie diese Feststellung ihn bestärkt hatte, noch weiter vorzudringen, und was er schließlich im letzten Raum erlebt hatte. Wie er in die Matrix eingegangen war — und wie sich seine Erinnerungen von diesem Moment an von denen seines zweiten Ichs getrennt hatten. Doch als er erklärte, dieses zweite Ich sei tot, da klang das so überzeugt, dass Khouri sich fragte, ob er das nicht auch auf einem anderen Weg feststellen konnte. Waren sie nicht vielleicht doch bis zum Ende durch ein unsichtbares Band verbunden gewesen?

Khouri spürte, dass auch Sylveste das Geschehen nicht bis ins Letzte begriff. Er war kein Gott geworden — oder höchstens für jenen kurzen Moment, den er im Portal verbracht hatte. Hatte er sich anschließend dagegen entschieden? Eine gute Frage. Wenn er von der Matrix simuliert wurde und die Rechenkapazität der Matrix theoretisch unbegrenzt war… wie konnte er dann an Grenzen stoßen, für die er sich nicht bewusst entschieden hatte?

Noch etwas erfuhr sie: Carine Lefevre war von einem Teil des Schleiers am Leben erhalten worden und das war kein Zufall gewesen.

»Es gab offenbar zwei Parteien.« Sylveste spielte mit einem der Messingmikroskope auf seinem Schreibtisch. Er drehte den kleinen Spiegel hin und her, als wolle er die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfangen. »Die eine wollte mich einsetzen, um herauszufinden, ob die Unterdrücker noch aktiv waren und für die Schleierweber nach wie vor eine Gefahr darstellten. Der zweiten Partei lag, denke ich, nicht mehr an der Menschheit als der ersten. Aber sie war vorsichtiger. Sie suchte nach einem besseren Verfahren. Sie wollte der Unterdrücker-Anlage nicht einfach einen Köder schicken, um zu sehen, ob sie noch reagierte.«

»Aber was wird jetzt aus uns? Wer hat eigentlich gesiegt? Sonnendieb oder die Mademoiselle?«

»Keiner«, sagte Sylveste und stellte das Mikroskop zurück. Es gab einen dumpfen Ton, als der samtüberzogene Fuß den Schreibtisch berührte. »Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich habe. Ich glaube, dass wir — dass ich — kurz davor standen, die Anlage zu aktivieren, ihr den Stimulus zu geben, den sie brauchte, um die anderen Anlagen zu wecken und den Krieg gegen die Menschheit zu beginnen.« Er lachte. »Wobei das Wort Krieg unterstellt, dass es zwei Seiten hätte geben können. Aber daran glaube ich nicht.«

»Und Sie meinen, es wäre nicht so weit gekommen?«

»Ich kann nur hoffen und beten.« Er zuckte die Achseln. »Natürlich könnte ich mich auch irren. Früher sagte ich immer, ich würde mich niemals irren, aber diese Lektion habe ich inzwischen gelernt.«

»Und was ist mit den Amarantin, den Schleierwebern?«

»Das wird man abwarten müssen.«

»Mehr können Sie dazu nicht sagen?«

»Ich habe nicht auf alles eine Antwort, Khouri.« Er sah sich um, musterte die Bände auf den Regalen, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch da seien. »Nicht einmal hier.«

»Du musst jetzt gehen«, sagte Pascale. Sie stand plötzlich mit einem Glas mit einer klaren Flüssigkeit — Wodka vielleicht — an der Seite ihres Mannes. Nun stellte sie das Glas neben einen blanken pergamentfarbenen Schädel auf den Schreibtisch.

»Wohin?«

»Ins All zurück, Khouri. Das wolltest du doch? Oder willst du etwa den Rest der Ewigkeit hier verbringen?«

»Was soll ich denn im All?«, fragte Khouri. »Du müsstest doch wissen, dass es keine Zuflucht mehr gibt. Das Schiff war gegen uns; der Spinnenraum ist zerstört; Ilia ist tot…«

»Sie hat es geschafft, Khouri. Sie ist nicht umgekommen, als das Shuttle zerstört wurde.«

Sie hatte also einen Raumanzug gefunden — aber was hatte sie davon? Khouri wollte noch weiter fragen, doch dann wurde ihr klar, dass Pascale ihr wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hatte, so unglaublich sie sich auch anhörte — so nutzlos sie auch war und so wenig sie noch ändern konnte.

»Was habt ihr beiden jetzt vor?«

Sylveste griff nach dem Wodkaglas und nahm einen kleinen Schluck. »Haben Sie das noch nicht erraten? Dieser Raum ist nicht nur Ihretwegen hier. Wir bewohnen ihn auch, allerdings in einer simulierten Version in der Matrix. Dort existiert nicht nur dieses Zimmer, sondern auch der Rest der Forschungsstation. Alles ist so, wie es war — nur dass wir es jetzt ganz für uns allein haben.«

»Ist das alles?«

»Nein… nicht ganz.«

Pascale trat an seine Seite, er legte ihr den Arm um die Taille, und beide wandten sich dem Sprossenfenster zu, der blutroten, fremden Abendsonne, der leblosen Wüstenlandschaft von Resurgam.

Dann trat die Veränderung ein.

Es begann am Horizont: eine riesige Transformationswelle raste schnell wie der anbrechende Tag auf sie zu. Am Himmel türmten sich Wolken so groß wie Imperien; der Himmel selbst war blauer geworden, obwohl die Sonne immer noch der Abenddämmerung entgegensank. Und die Landschaft war nicht mehr wüstentrocken, sondern verschwand unter einer Welle von üppig grüner Vegetation. Khouri sah Seen und Bäume, fremdartige Bäume. Straßen wanden sich zwischen eiförmigen Häusern dahin, die Häuser fanden sich zu Dörfern zusammen und am Horizont scharte sich eine größere Gemeinde um einen einzelnen, schlanken Turm. Sie starrte wie gebannt in die Ferne, das gewaltige Schauspiel verschlug ihr die Sprache. Eine ganze Welt erwachte zum Leben und dann — vielleicht war es Illusion, das sollte sie nie erfahren — glaubte sie zwischen den Häusern Gestalten zu sehen, die sich so flink wie Vögel bewegten, aber nie den Boden verließen, sich niemals in die Lüfte schwangen.

»Alles oder fast alles, was sie jemals waren«, sagte Pascale, »ist in der Matrix gespeichert. Das ist keine archäologische Rekonstruktion, Khouri. Das ist Resurgam, und sie bewohnen es jetzt. Eine ganze Welt wurde allein durch die Willenskraft der Überlebenden wieder zum Leben erweckt. Sie ist echt bis ins kleinste Detail.«

Khouri sah sich um, und dann verstand sie. »Und ihr wollt sie studieren?«

»Nicht nur studieren«, sagte Sylveste und nahm noch einen Schluck Wodka. »Sondern darin leben. Bis sie uns langweilt, was — vermutlich — nicht so bald der Fall sein wird.«