Volyova hatte die Ratten so programmiert, dass sie ihr mitteilten, wenn sie menschliche Rückstände wie abgestorbene Hautzellen und dergleichen verdauten, die nicht von ihr stammten. Auf diese Weise erfuhr sie sofort, wenn die anderen Besatzungsmitglieder aufwachten, auch wenn sie sich in einer ganz anderen Schiffszone aufhielt.
»Besuch«, quiekte die Ratte wieder.
»Schon gut. Ich habe verstanden.« Sie setzte den kleinen Nager auf das Deck und fluchte in allen Sprachen, deren sie mächtig war.
Die Verteidigungsdrohne, die Pascale begleitet hatte, fing die Stress-Schwingungen in Sylvestes Stimme auf und kam surrend näher. »Sie wollen etwas über die Achtzig erfahren? Das können Sie haben. Ich empfinde für diese Menschen keine Spur von Bedauern. Sie wussten alle, worauf sie sich einließen. Außerdem waren es nur neunundsiebzig Freiwillige, nicht achtzig. Die Leute vergessen bequemerweise, dass der achtzigste mein Vater war.«
»Das können Sie ihnen kaum verdenken.«
»Wenn Dummheit erblich ist, dann wohl nicht.« Sylveste versuchte sich zu entspannen. Es fiel ihm schwer. Irgendwann im Lauf des Gesprächs hatte die Miliz angefangen, Angstgas in den Luftraum unter der Kuppel einzuleiten. Nun war das Morgenrot mit schwärzlichen Flecken durchsetzt. »Hören Sie«, sagte Sylveste ruhig. »Die Regierung hat Calvin beschlagnahmt, als ich verhaftet wurde. Er kann sich für seine Handlungen durchaus selbst rechtfertigen.«
»Ich will Sie ja auch nicht zu seinen Handlungen befragen.«
Pascale machte einen Eintrag auf ihrem Notepad. »Ich will wissen, was hinterher aus ihm — aus seiner Alpha-Simulation — geworden ist. Jedes Alpha enthielt etwa zehn hoch achtzehn Byte an Information«, fuhr sie fort und umgab ihre Notiz mit einem Kreis. »Die Archive von Yellowstone weisen große Lücken auf, aber sie geben doch einiges her. Ich konnte feststellen, dass sich Sechsundsechzig Alphas in Orbitalen Datenspeichern um Yellowstone befanden; auf Karussellen, in Kandelaberstädten und in verschiedenen Schlupfwinkeln der Raumpiraten und der Ultras. Die meisten waren natürlich abgestürzt, aber niemand wollte sie löschen. Zehn weitere konnte ich in korrumpierten Datenbanken auf dem Planeten selbst aufspüren, damit bleiben vier, die verschollen sind. Drei von diesen vieren zählen zu den Neunundsiebzig und waren in der Obhut sehr armer oder ausgestorbener Familien. Das letzte ist Calvins Alpha.«
»Hat die Geschichte auch eine Pointe?«, fragte er gelangweilt, um sie nicht merken zu lassen, wie sehr ihn das Thema berührte.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Calvin auf die gleiche Weise verloren ging wie die anderen. Das passt nicht zusammen. Das Sylveste-Institut hatte es nicht nötig, seine Erbstücke in die Obhut von Gläubigern oder Treuhändern zu geben. Es war bis zum Ausbruch der Seuche eine der wohlhabendsten Einrichtungen auf dem Planeten. Was also ist aus Calvin geworden?«
»Sie glauben, ich hätte ihn mit nach Resurgam gebracht?«
»Nein. Allem Anschein nach war er da schon längst verschwunden. Der letzte Beleg dafür, dass sich das Sim im System befand, datiert mehr als einhundert Jahre vor dem Aufbruch der Resurgam-Expedition.«
»Das ist ein Irrtum«, widersprach Sylveste. »Wenn Sie sich die Unterlagen genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass das Alpha Ende des vierundzwanzigsten Jahrhunderts in einen Orbitalen Datenspeicher ausgelagert wurde. Dreißig Jahre später zog das Institut um, und davon war sicher auch das Sim betroffen. ‘39 oder ‘40 wurde das Institut dann vom Haus Reivich angegriffen. Die Reivichs haben die Hauptspeicher gelöscht.«
»Nein«, sagte Pascale, »diese Möglichkeiten habe ich ausgeschlossen. Mir ist durchaus bekannt, dass das Sylveste-Institut im Jahre 2390 etwa zehn hoch achtzehn Byte in den Orbit ausgelagert und die gleiche Datenmenge siebenunddreißig Jahre später wieder zurückgeholt hat. Aber zehn hoch achtzehn Byte Information müssen nicht zwangsläufig Calvin sein. Es kann sich ebenso gut um zehn hoch achtzehn Byte metaphysischer Lyrik handeln.«
»Das beweist gar nichts.«
Sie reichte ihm das Notepad. Ihr Hofstaat aus Seepferdchen und Fischen stob auseinander wie ein Glühwürmchenschwarm. »Nein, aber es ist verdächtig. Warum sollte das Alpha genau dann verschwinden, als Sie zu Ihrer Begegnung mit den Schleierwebern aufbrachen, wenn es zwischen den beiden Ereignissen keinerlei Verbindung gibt?«
»Wollen Sie unterstellen, ich hätte etwas damit zu tun gehabt?«
»Die späteren Datenbewegungen können nur von jemandem innerhalb der Sylveste-Organisation gefälscht worden sein. Damit fällt der Verdacht natürlich auf Sie.«
»Ein Motiv wäre nicht schlecht.«
»Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte sie und nahm das Notepad wieder auf den Schoß. »Das fällt mir schon noch ein.«
Drei Tage nachdem Volyova durch die Pförtnerratte erfahren hatte, dass die Crew aus dem Kälteschlaf erwacht war, fühlte sie sich endlich in der Lage, ihren Kollegen gegenüberzutreten. Das sollte nicht heißen, dass sie sich auf das Wiedersehen freute. Volyova war zwar nicht direkt ein Menschenfeind, aber es war ihr noch nie schwergefallen, mit sich allein zu sein. Diese Begegnung versprach besonders schwierig zu werden. Nagorny war tot, und das hatten inzwischen natürlich auch die anderen bemerkt.
Wenn man die Ratten nicht mitzählte und auch Nagorny ausschloss, hatte das Schiff noch eine Besatzung von sechs Mann. Fünf, wenn man auch den Captain nicht gelten ließ.
Und warum sollte man, wenn er — jedenfalls, soweit es die anderen betraf — nicht bei Bewusstsein und erst recht nicht ansprechbar war. Er war nur an Bord, weil man hoffte, ihn wiederherstellen zu können. Ansonsten lag die Befehlsgewalt in den Händen des Triumvirats, also bei Yuuji Sajaki, Abdul Hegazi und — natürlich — ihr selbst. Unterhalb davon gab es derzeit noch zwei gleichrangige Besatzungsmitglieder, Kjarval und Sudjic, beides Chimären, die noch nicht lange an Bord waren. Den niedrigsten Rang von allen bekleidete der Waffenoffizier. Diesen Posten hatte Nagorny innegehabt. Nach seinem Tod war dieser Thron sozusagen verwaist; ein Vakuum war entstanden.
Wenn die Besatzung nicht im Kälteschlaf lag, beschränkte sie sich im Allgemeinen auf bestimmte streng abgegrenzte Bereiche des Schiffes und überließ Volyova und ihren Maschinen den Rest. Jetzt war es nach Schiffszeit Morgen. Hier oben, wo sich die Mannschaft aufhielt, folgte die Beleuchtung nach wie vor einem Tag-Nacht-Schema, das von einer Vierundzwanzig-Stunden-Uhr gesteuert wurde. Volyova ging zuerst in den Kälteschlafraum. Er war leer, und alle Tanks bis auf einen waren geöffnet. Der letzte gehörte natürlich Nagorny. Volyova hatte ihm den Kopf wieder aufgesetzt, die Leiche in den Behälter gelegt und heruntergekühlt. Später hatte sie dafür gesorgt, dass das Gerät versagte und Nagorny sich wieder erwärmte. Da war er natürlich schon tot gewesen, aber um das im Nachhinein festzustellen, musste man schon ein erfahrener Pathologe sein. Offensichtlich hatte niemand von der Besatzung besondere Lust verspürt, ihn genauer zu untersuchen.
Wieder kam ihr Sudjic in den Sinn. Sudjic und Nagorny hatten sich eine Zeit lang sehr nahe gestanden. Sie durfte Sudjic nicht unterschätzen.
Volyova verließ den Kälteschlafraum und suchte mehrere Orte auf, die als Treffpunkt in Frage kamen. Schließlich betrat sie einen der Wälder und kämpfte sich durch ein schier undurchdringliches Dickicht aus abgestorbenen Pflanzen, bis sie eine Stelle erreichte, wo die UV-Lampen noch brannten. Dort gab es eine Lichtung, die über eine schlichte Holztreppe zu erreichen war. Schwankenden Schrittes stieg sie nach unten. Die Lichtung war eine Idylle — besonders nach dem langen Weg durch den toten Wald. Der Wind bewegte das Dach aus grünen Palmblättern, durch das immer wieder gelbe Sonnenstrahlen fielen. In der Ferne stürzte ein Wasserfall über schroffe Felswände in eine Lagune. Große und kleine Papageien flogen von Ast zu Ast und krächzten heiser in den Baumkronen.