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Volyova und Hegazi erreichten die andere Seite der Transitkugel, passierten eine materiedurchlässige Membran und gelangten in die Zollabfertigung. Auch in dieser Kugel herrschte Schwerelosigkeit. An den Wänden hingen Girlanden von selbst auslösenden Waffen, die jeden Ankommenden ins Visier nahmen. Im Zentrum schwebten durchsichtige Blasen mit einem Durchmesser von drei Metern, die entlang der Äquatorlinie zu öffnen waren. Zwei Kugeln orteten die Neuankömmlinge, schwebten auf sie zu und schlossen sie ein.

Im Innern von Volyovas Blase hing ein kleiner Servomat. Er hatte die Form eines japanischen Kabuto-Helms, unter dem Rand ragten verschiedene Sensoren und Anzeigen hervor. Das Gerät scannte sie. Sie spürte ein leises Prickeln, als ordne jemand mit zarter Hand einen Blumenstrauß in ihrem Kopf.

»Ich entdecke Reste von russischen Sprachstrukturen, stelle aber fest, dass Neu-Norte Ihre Standardsprache ist. Sind Sie imstande, damit die bürokratischen Formalitäten zu bewältigen?«

»Durchaus«, versetzte Volyova beleidigt. Was ging es die Maschine an, ob ihre Muttersprache eingerostet war?

»Dann werde ich mit Norte fortfahren. Von Systemen zur Kälteschlafeinleitung einmal abgesehen, kann ich weder Hirnimplantate noch exosomatische Elemente zur Wahrnehmungsveränderung entdecken. Wünschen Sie ein Leihimplantat, bevor wir die Befragung fortsetzen?«

»Ein Bildschirm und ein Gesicht genügen.«

»Schön.«

Unter dem Helmrand entstand ein Gesicht mit leicht mongolischem Einschlag. Eine weiße Frau, die das Haar ebenso kurz geschnitten trug wie Volyova. Hegazi hatte vermutlich einen dunkelhäutigen Mann mit Schnurrbart und ähnlich vielen mechanischen Teilen wie er selbst.

»Identifizieren Sie sich«, verlangte die Frau.

Volyova stellte sich vor.

»Sie haben dieses System zum letzten Mal… mal sehen.« Ein kurzer Blick nach unten. »Vor fünfundachtzig Jahren besucht; 2461. Ist das richtig?«

Wider besseres Wissen ging Volyova näher an den Schirm heran. »Natürlich ist das richtig. Du bist eine Gamma-Simulation. Also lass das Theater und mach voran. Ich bin hier, um Waren zu tauschen, und jede Sekunde, die du mir stiehlst, kostet Gebühren für den Parkorbit um euren Hundeköttel von einem Planeten.«

»Aufsässiges Verhalten«, sagte die Frau und vermerkte etwas in einem unsichtbaren Notizbuch. »Nur zu Ihrer Information, die Archive von Yellowstone sind vielfach lückenhaft, wir hatten ausgedehnte Datenverluste durch die Seuche. Meine Frage hatte den Zweck, einen nicht bestätigten Eintrag zu verifizieren.« Sie hielt inne. »Und übrigens heiße ich Vavilov und sitze mit einer lauwarmen Tasse Kaffee und meiner letzten Zigarette seit acht Stunden in einem zugigen Büro. Meine Schicht dauert zehn Stunden. Wenn ich heute nicht zehn Leute abweise, hält mir mein Chef vor, dass ich im Dienst schlafe, und bisher sind es erst fünf. Mir bleiben also nur noch zwei Stunden, um die Quote zu erfüllen, und dafür ist mir jedes Mittel recht. Sie sollten sich Ihren nächsten Ausbruch sehr sorgfältig überlegen.« Die Frau zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch in Volyovas Richtung. »Können wir jetzt fortfahren?«

»Entschuldigen Sie, ich dachte…« Volyova unterbrach sich. »Werden solche Arbeiten denn hier nicht von Simulationen erledigt?«

»Früher schon«, seufzte die Vavilov resigniert. »Das Problem mit Simulationen ist nur, dass sie sich viel zu viel bieten lassen.«

Vom Zentrum des Karussells fuhren Volyova und Hegazi mit einem Fahrstuhl von der Größe eines Hauses an einem der vier Radialspeichen des Rades entlang nach außen. Dabei stieg ihr Gewicht stetig an, bis sie die Peripherie erreichten. Die hier herrschende normale Yellowstone-Schwerkraft unterschied sich nicht merklich vom Erdstandard, an dem die Ultras festhielten. Das Orbitalkarussell New Brazilia brauchte vier Stunden für einen Umlauf um Yellowstone. Seine Bahn machte einen Bogen um den Rostgürtel — einen Schuttring, der erst seit der Seuche entstanden war. Es war gebaut wie ein Rad, einer der häufigsten Karussellgrundrisse, und hatte einen Durchmesser von zehn Kilometern und eine Dicke von elfhundert Metern. Alle menschlichen Aktivitäten spielten sich auf der dreißig Kilometer langen Außenfelge ab, die Platz bot für einige kleinere Städte, etliche Dörfer und verschiedene Landschaften im Kleinformat. Man hatte sogar Wälder angelegt und in die schräg nach oben strebenden Seiten der Felge azurblaue, schneebedeckte Berge eingeschnitten, um den Anschein von Weite zu erwecken. Einen halben Kilometer über der Felge wölbte sich ein durchsichtiges Dach über den konkaven Teil des Rades. Es war kreuz und quer von Metallschienen durchzogen, auf denen dicke, computergesteuerte Kunstwolken ihre Bahnen zogen. Die Wolken simulierten nicht nur Planetenwetter, sie milderten auch die manchmal erschreckend starke Krümmung dieser Welt. Volyova hielt sie für realistisch, ohne sich dessen ganz sicher sein zu können. Sie hatte mit eigenen Augen noch nie echte Wolken gesehen, jedenfalls nicht von unten. Sie hatten den Fahrstuhl verlassen und standen nun über der größten Siedlung des Karussells. Dicht zusammengedrängt ragten zahlreiche Gebäude zwischen den terrassierten Talhängen empor. Rimtown, Randstadt, nannte sich der Ort. Ein unschönes Durcheinander verschiedenster Stilrichtungen zeugte davon, wie viele unterschiedliche Bewohner das Karussell im Lauf seiner Geschichte schon beherbergt hatte. Auf der untersten Etage wartete eine Reihe von Rikschas. Der Fahrer der ersten trank Bananensaft aus einer Dose, die in einem Halter an der Lenkstange steckte. Hegazi reichte ihm ein Stück Papier mit dem Fahrtziel. Der Fahrer hielt sich das Blatt dicht vor die schwarzen, eng beieinanderstehenden Augen und nahm den Auftrag brummend an. Bald waren sie mitten im Verkehrsgewühl. Kraftfahrzeuge und pedalgetriebene Vehikel kamen von allen Seiten, Fußgänger stürzten sich todesmutig in jede Lücke des scheinbar ziellosen Stroms. Mindestens die Hälfte der Passanten waren Ultranauten, erkennbar an ihrer Blässe, dem schmächtigen Körperbau und den stolz zur Schau getragenen künstlichen Körperteilen. Schwarze Lederbandagen und Unmengen an blitzendem Schmuck, Tätowierungen und Handelstrophäen ergänzten das Bild. Volyova sah keine extremen Chimären. Hegazi war vielleicht eine Ausnahme, er gehörte wohl zu den fünf am höchsten aufgerüsteten Menschen im ganzen Karussell. Aber die Mehrheit trug das Haar nach herkömmlicher Ultramanier zu dicken Zöpfen geflochten, die die Zahl der absolvierten Kälteschlafperioden anzeigten, und viele hatten sich die Kleider aufgeschlitzt, um ihre Prothesen zu zeigen. Wenn Volyova sich diese Exemplare ansah, konnte sie kaum glauben, derselben Kultur anzugehören.

Natürlich waren die Ultras nicht die einzigen Raumfahrer, die die Menschheit hervorgebracht hatte. Zumindest hier bildeten die Raumpiraten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Obwohl auch sie das Weltall bereisten, fuhren sie nicht auf interstellaren Schiffen und hatten daher eine ganz andere Einstellung als die gespenstergleichen Ultras mit ihren Dreadlocks und ihrer altmodischen Sprache. Und auch damit nicht genug. Die Eisreiter waren ein Ableger der Raumpiraten, psychisch angepasst an die extreme Einsamkeit in den Kuiper-Gürteln. Sie blieben mit leidenschaftlicher Verbissenheit unter sich. Die Kiemer waren an das Leben im Wasser angepasste Menschen, die flüssige Luft atmeten. Sie eigneten sich als Besatzung für Kurzstreckenschiffe mit hoher Beschleunigung und stellten einen großen Teil der Polizei des Systems. Einige Kiemer waren nicht mehr fähig, unter normalen Bedingungen zu atmen und sich zu bewegen. Sie waren außer Dienst in großen, selbststeuernden Aquarien untergebracht.