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Als das SISS vor ihm aufragte, dachte er: das ist alles nicht wirklich; nur ein Kapitel aus meiner Biografie. Pascale hatte ihm den Rohentwurf gegeben und ihn um seine Meinung gebeten. Jetzt durchlebte er die Episoden. Ohne die Mauern seines Gefängnisses in Cuvier zu verlassen, schwebte er wie ein Geist auf den Spuren seines jüngeren Ich durch seine eigene Vergangenheit. Tief vergrabene Erinnerungen stiegen wie von selbst an die Oberfläche. Die Biografie war noch längst nicht abgeschlossen. Später sollte sie der Öffentlichkeit von vielen Seiten, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlich hoher Interaktivität zugänglich sein. Ein ungemein komplexes Werk mit vielen Facetten und so vielen Details, dass jemand ohne weiteres sein ganzes Leben damit zubringen konnte, nur einen Abschnitt von Dan Sylvestes Vergangenheit zu erkunden.

Das SISS sah genauso aus wie in seiner Erinnerung. Das organisatorische Zentrum des Sylveste-Instituts für Schleierweber-Studien lag in einem radförmigen Gebäude, das noch aus Amerikano-Tagen stammte, wobei jeder einzelne Kubik-Nanometer über die Jahrhunderte mehrfach ausgetauscht worden war. Auf zwei grauen, pilzförmigen Halbkugeln, die aus der Radnabe sprossen, befanden sich die Andockschleusen und die bescheidenen Verteidigungssysteme, die von der demarchistischen Ethik zugelassen waren. Den Rand des Rades bildete ein Konglomerat von Wohnmodulen, Labors und Büros, eingebettet in eine dicke Schicht Chitin-Polymer und durch ein Netz von Tunnelgängen und Versorgungsrohren mit Wänden aus Hai-Kollagen miteinander verbunden.

»Sie ist gut.«

»Finden Sie?«, fragte Pascale kühl.

»Genau so war es«, sagte Sylveste. »Das waren meine Gefühle, als ich ihn besuchte.«

»Danke, ich… aber das war noch gar nichts — der Teil war einfach. Umfassend dokumentiert. Wir hatten Pläne vom SISS, und in Cuvier gibt es sogar noch Leute wie Janequin, die Ihren Vater kannten. Schwierig ist, was hinterher passierte — dazu haben wir kaum Unterlagen, nur das, was Sie bei Ihrer Rückkehr erzählten.«

»Sie haben die Aufgabe sicher ganz ausgezeichnet gelöst.«

»Sie werden ja sehen — und zwar schon bald.«

Das Shuttle dockte an. Hinter der Schleuse warteten schon die Sicherheitsservomaten des Instituts, um seine Identität zu überprüfen.

»Calvin wird nicht begeistert sein«, sagte Gregori, der Verwalter des Instituts. »Aber jetzt ist es vermutlich zu spät, um dich nach Hause zu schicken.«

Die Szene hatte sich in den letzten Monaten schon zwei oder drei Mal abgespielt. Immer lehnte Gregori jede Verantwortung für die Folgen ab. Sylveste brauchte keine Begleitung mehr, er fand den Weg durch die Tunnel aus Hai-Kollagen bis dahin, wo es — das Wesen — untergebracht war, auch allein.

»Keine Sorge, Gregori. Wenn Vater Ärger machen sollte, dann sagen Sie ihm einfach, ich hätte Ihnen befohlen, mich herumzuführen.«

Gregori zog die Augenbrauen hoch und die auf seine Emotionen abgestimmten entoptischen Figuren brachten seine Belustigung zum Ausdruck.

»Tust du das nicht tatsächlich, Dan?«

»Ich wollte die Sache nur gütlich regeln.«

»Spar dir die Mühe, mein Junge. Uns allen wäre es sehr viel lieber, wenn du dem Beispiel deines Vaters folgen würdest. Bei einem guten totalitären Regime weiß man wenigstens, woran man ist.«

Durch die Tunnel brauchte man zwanzig Minuten von der Nabe bis hinaus zum Rand. Er kam vorbei an wissenschaftlichen Abteilungen, wo Denkerteams — aus Menschen und Maschinen — sich unermüdlich bemühten, das Rätsel der Schleier zu lüften. Obwohl das SISS alle bisher entdeckten Schleier mit Überwachungsstationen umgeben hatte, wurden die meisten Informationen im Orbit um Yellowstone gesammelt und verarbeitet. Hier stellte man komplizierte Theorien auf und versuchte, sie mit den vorhandenen Fakten, die zwar spärlich, aber nicht zu ignorieren waren, in Einklang zu bringen. Bisher hatte keine Theorie mehr als ein paar Jahre überdauert.

Das Wesen, das Sylveste besuchen wollte, war in einem bewachten Anbau am Rand untergebracht; in Anbetracht der Tatsache, dass sich nicht feststellen ließ, ob es dieses Geschenk überhaupt zu würdigen wusste, war der Wohnraum sogar recht großzügig bemessen. Der Name des Wesens — des Mannes — war Philip Lascaille.

Inzwischen bekam er nicht mehr viel Besuch. Zu Anfang, gleich nach seiner Rückkehr, waren die Menschen in Scharen gekommen. Aber als sich herausstellte, dass Lascaille den Forschern nichts sagen konnte, was mehr oder weniger brauchbar gewesen wäre, hatte das Interesse nachgelassen. Sylveste hatte jedoch rasch erfasst, dass es für ihn nur günstig war, wenn sich niemand mehr eingehender mit Lascaille beschäftigte. Selbst seine eigenen eher seltenen Besuche — er kam ein oder zwei Mal im Monat — gingen so weit über die Norm hinaus, dass sie zwischen den beiden — ihm selbst und dem, was aus Lascaille geworden war — so etwas wie eine Beziehung entstehen ließen.

Zu Lascailles Anbau gehörte auch ein Garten, über dem sich ein künstlicher, tief blauer Himmel spannte. Dort wehte immer ein leichter Wind, gerade stark genug, um die Windspiele in den dichten Baumkronen am Rand erklingen zu lassen.

Der Garten war angelegt wie ein primitives Labyrinth, mit Wegen, Felsblöcken, kleinen Hügeln, Gitterspalieren und Goldfischteichen. Deshalb brauchte Sylveste immer etwa eine Minute, bis er Lascaille gefunden hatte. Er bot fast immer den gleichen Anblick: nackt oder halb nackt, ziemlich schmutzig, die Finger verschmiert von Buntstiften und Kreide in allen Regenbogenfarben. Sylveste wusste immer, dass er fast am Ziel war, wenn er Kritzeleien auf den Steinplatten entdeckte, komplexe symmetrische Muster oder Zeichen, die aussahen, als wolle jemand die chinesische oder die Sanskrit-Schrift imitieren, ohne die Buchstaben zu kennen. Manchmal erinnerte das, was Lascaille auf den Weg malte, auch an Boolesche Algebra oder an Morsezeichen.

Bald darauf — es war immer nur eine Frage der Zeit — bog er um eine Ecke und stand vor Lascaille, der an einer neuen Zeichnung arbeitete oder eine löschte, an der er zuvor gearbeitet hatte. Sein Gesicht war in völliger Konzentration erstarrt und jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Es herrschte völlige Stille bis auf das Klirren des Windspiels, das leise Plätschern des Wassers oder das Scharren der Buntstifte und der Kreide auf dem Stein.

Sylveste musste oft Stunden warten, bis Lascaille Notiz von ihm nahm. Und dann wandte ihm der Mann meist nur für einen Moment das Gesicht zu, um sich gleich wieder seinem Tun zu widmen. Doch in diesem Moment passierte immer das Gleiche. Die Starre löste sich, und an die Stelle der Maske trat — ganz kurz nur — ein Lächeln. Stolz lag darin, Spott oder etwas völlig anderes, etwas, das Sylveste niemals begreifen würde.

Dann kehrte Lascaille zu seinen Kreidezeichnungen zurück. Und nichts deutete darauf hin, dass dieser Mann — als einziger Mensch — zur Oberfläche eines Schleiers geflogen und lebend zurückgekehrt war.

»Jedenfalls«, sagte Volyova, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, »erwarte ich nicht, dass es einfach ist, aber ich zweifle nicht daran, dass sich früher oder später ein Kandidat findet. Ich habe die Stelle mit Angabe unseres nächsten Ziels ausgeschrieben. Zur Aufgabenstellung gebe ich nur an, dass Implantate benötigt werden.«

»Aber sie wollen nicht den Erstbesten nehmen, der des Weges kommt«, sagte Hegazi. »Oder?«

»Natürlich nicht. Ich werde, ohne die Kandidaten davon in Kenntnis zu setzen, auf militärische Erfahrungen achten. Jemand, der beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten die Nerven verliert oder keine Disziplin halten kann, nützt mir nichts.« Nachdem die Schwierigkeiten mit Nagorny jetzt ausgestanden waren, wurde sie allmählich ruhiger. Auf der Bühne spielte ein Mädchen auf einer goldenen Teeconax Ragamusik mit endlos wiederkehrenden Motiven. Volyova war nie ein großer Musikliebhaber gewesen. Aber die mathematische Strenge dieser Weisen hatte etwas so Betörendes, dass sie ihre Abneigung vorübergehend vergaß. Sie sagte: »Ich bin sehr zuversichtlich. Wir müssen nur auf Sajaki Acht geben.«