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Sylveste erinnerte sich, wie ihm sein Vater eine Schachtel überreichte, deren Seiten mit verschlungenen Ribonuklein-Strängen verziert waren.

»Mach sie auf«, hatte Calvin gesagt.

Er hatte die Schachtel genommen. Sie war ganz leicht. Als er den Deckel herunterriss, kam ein Nest aus faserigem Packmaterial zum Vorschein. Darin lag ein braunfleckiges, rundes Ding von der gleichen Farbe wie die Schachtel. Der obere Teil eines Schädels, offensichtlich menschlicher Herkunft. Der Unterkiefer fehlte.

Im Raum war es still geworden.

»Ist das alles?«, hatte Sylveste gefragt, gerade so laut, dass alle Anwesenden es hören konnten. »Ein alter Knochen? Vielen Dank, Dad, ich bin tief beschämt.«

»Dazu hast du auch allen Grund«, versetzte Calvin.

Calvin hatte leider Recht, Sylveste begriff es im nächsten Moment. Der Schädel war unglaublich wertvoll; zweihunderttausend Jahre alt — eine Frau aus Atapuerca, Spanien, wie er wenig später erfuhr. Der Zeitpunkt ihres Todes war schon aus dem Kontext des Fundorts offensichtlich, aber die Archäologen hatten die Schätzung mit den modernsten Verfahren ihrer Zeit noch verfeinert: Kalium-Argon-Bestimmung der Felsen ihrer Begräbnishöhle, Uran-System-Untersuchung der Travertin-Ablagerungen an den Wänden, Fission-Track-Analyse der Vulkanglaspartikel und Thermolumineszenz-Datierung von verbrannten Feuersteinfragmenten. Alles Techniken, die — mit einigen Verbesserungen, was die Genauigkeit und die Bedienerfreundlichkeit anging — auch von den Grabungsteams auf Resurgam noch eingesetzt wurden. Die Physik lieferte nur eine begrenzte Zahl von Methoden zur Altersbestimmung. Eigentlich hätte Sylveste sofort begreifen und den Schädel richtig einordnen müssen: er war das älteste Relikt der Menschheit auf Yellowstone, vor Jahrhunderten ins Epsilon-Eridani-System gebracht und beim Kolonialaufstand verloren gegangen. Dass Calvin ihn wiedergefunden hatte, war an sich schon ein kleines Wunder.

Sylveste wurde rot, allerdings weniger vor Scham über seine Undankbarkeit, als weil er seine Unwissenheit so offen kundgetan hatte, obwohl es doch so einfach gewesen wäre, sie zu kaschieren. Eine solche Schwäche sollte ihm niemals wieder unterlaufen, gelobte er sich. Jahre später hatte er den Schädel als dauerhafte Mahnung an diesen Vorsatz mit nach Resurgam genommen.

Er durfte jetzt nicht scheitern.

»Wenn Ihre Vermutung richtig ist«, sagte Pascale, »dann muss es für diese Art der Beisetzung einen Grund geben.«

»Vielleicht sollte es eine Warnung sein«, sagte Sylveste und stieg zu den drei Studenten hinunter.

»So etwas hatte ich schon befürchtet«, sagte Pascale und folgte ihm. »Und worauf sollte sich eine so schreckliche Warnung bezogen haben?«

Die Frage war wohl eher rhetorisch, dachte Sylveste. Sie kannte seine Ansichten über die Amarantin nur zu gut, und es bereitete ihr offenbar ein diebisches Vergnügen, ihn damit zu necken. Als wollte sie ihn so lange zwingen, seine Theorien zu wiederholen, bis irgendwann ein logischer Fehler auftauchte; ein Fehler, von dem sogar er selbst zugeben musste, dass er seine ganze Argumentation ins Wanken brachte.

»Auf das Ereignis«, sagte Sylveste und fuhr die feine schwarze Linie hinter dem nächsten Caisson nach.

»Das Ereignis ist über die Amarantin hereingebrochen«, wandte Pascale ein. »Sie hatten dabei nichts mitzureden. Und es ging sehr schnell. Sie hätten keine Zeit gehabt, mit der Beisetzung ihrer Leichen finstere Drohungen auszustoßen, immer vorausgesetzt, sie hätten überhaupt geahnt, was ihnen bevorstand.«

»Sie hatten die Götter erzürnt«, sagte Sylveste.

»Ja«, nickte Pascale. »Wir sind uns wohl alle insoweit einig, dass sie das Ereignis aus ihren rigiden Glaubensvorstellungen heraus als Zeichen göttlichen Missfallens gedeutet hätten — aber sie hätten keine Zeit gehabt, dieser Überzeugung vor ihrem Tod noch in irgendeiner Form dauerhaft Ausdruck zu verleihen oder gar bei der Beisetzung ihrer Toten Rücksicht auf künftige Archäologen einer anderen Spezies zu nehmen.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und band sie zu — feine Staubschleier kamen in die Grube herabgeschwebt, und die Luft war nicht mehr so unbewegt wie noch vor wenigen Minuten. »Aber Sie sind da anderer Ansicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lüftete sie ihre Stirnfransen und zog sich eine riesige Schutzbrille über die Augen. Dann schaute sie auf das Objekt hinab, das nun allmählich zum Vorschein kam.

Pascale sah durch ihre Schutzbrille die Daten der Gravitationsscanner, die um das Wheeler-Gitter herum postiert waren, und darunter im Normalmodus eine stereoskopische Ansicht vergrabener Massen. Sylveste brauchte nur seinen Augen einen entsprechenden Befehl zu geben, und der Boden, auf dem sie standen, wurde glasig und verlor an Substanz. In der trüben Matrix wurde ein riesiges Objekt sichtbar, ein Obelisk — ein behauener Felsblock von mehr als zwanzig Metern Höhe, der von mehreren Steinsarkophagen umgeben war. Bislang hatte man nur wenige Zentimeter der Oberseite freigelegt. An einer Seite war eine Inschrift in den üblichen Schriftzeichen der späten Amarantin-Phase zu erkennen. Aber die Auflösung der Gravitationsscanner reichte nicht aus, um den Text lesbar zu machen. Solange sie den Obelisken nicht vollends ausgegraben hatten, würden sie nicht mehr erfahren.

Sylveste schaltete seine Augen auf Normalbetrieb zurück. »Beeilt euch«, ermahnte er seine Studenten. »Kleinere Beschädigungen der Oberfläche kümmern mich nicht.

Aber ich möchte, dass bis heute Abend mindestens ein Meter von dem Ding zu sehen ist.«

Einer der jungen Leute drehte sich zu ihm um, ohne sich von den Knien zu erheben. »Sir, wir haben gehört, die Grabung müsse aufgegeben werden.«

»Warum, in aller Welt, sollte ich eine Grabung aufgeben?«

»Wegen des Sturms, Sir.«

»Zum Teufel mit dem Sturm.« Er wollte sich schon abwenden, doch Pascale packte mit etwas zu festem Griff seinen Arm.

»Ihre Besorgnis ist berechtigt, Dan.« Sie sprach so leise, dass nur er sie verstehen konnte. »Ich habe die Warnung auch gehört. Wir sollten nach Mantell zurückfahren.«

»Dann geht hier alles verloren!«

»Wir kommen zurück.«

»Selbst wenn wir einen Transponder versenken, finden wir die Stelle womöglich nie wieder.« Er wusste, dass er im Recht war: die Grabung war nicht gesichert, und die Karten für diese Gegend waren nicht sonderlich genau; man hatte sie in aller Eile zusammengestellt, als die Lorean vor vierzig Jahren von Yellowstone kommend in die Umlaufbahn gegangen war. Seit bei der Meuterei zwanzig Jahre später — als sich die Hälfte der Kolonisten zusammenrottete, um das Schiff in ihre Gewalt zu bringen und damit nach Hause zu fliegen — der Satellitengürtel zerstört worden war, gab es keine Möglichkeit mehr, auf Resurgam exakte geografische Positionsbestimmungen vorzunehmen. Und in einem Schmirgelsturm hatte schon so mancher Transponder versagt.

»Trotz allem lohnt es sich nicht, für eine Ausgrabung Menschenleben aufs Spiel zu setzen«, sagte Pascale.

»Für diese Ausgrabung lohnt sich vielleicht noch viel mehr.« Er schnippte mit den Fingern. »Schneller«, rief er den Studenten zu. »Nehmt notfalls den Servomaten. Bis morgen früh will ich die Oberseite dieses Obelisken sehen.«

Sluka, seine dienstälteste Studentin, murmelte etwas vor sich hin.

»Wollten Sie noch etwas sagen?«, fragte Sylveste.

Sluka stand auf — wahrscheinlich zum ersten Mal seit mehreren Stunden. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die kleine Spachtel, mit der sie gearbeitet hatte, fiel zu Boden und blieb neben ihren Füßen liegen, die in Eskimoschuhen, so genannten Mukluks steckten. Sie riss sich die Maske vom Gesicht und atmete für ein paar Sekunden Resurgam-Luft. »Wir müssen miteinander reden«, sagte sie.