In diesem Augenblick wies Hegazi mit einem Nicken zur Tür hin. Helles Tageslicht fiel herein und Volyova kniff geblendet die Augen zusammen. Im Gegenlicht stand, nur in Umrissen zu erkennen, eine majestätische Gestalt in einem schwarzen, knöchellangen Umhang und mit einem Helm auf dem Kopf. Das Licht umstrahlte sie wie eine Gloriole. Ein langer, glatter Stab, mit beiden Händen gehalten, teilte ihr Profil diagonal in zwei Hälften.
Der Komuso-Mönch trat ins Dunkel des Lokals. Der vermeintliche Kendo-Stab war nur eine Bambus-Shakuhachi, ein traditionelles Musikinstrument. Nun schob er sie mit geübter Bewegung rasch in eine Scheide unter den Falten seines Umhangs. Dann nahm er mit würdevoller Langsamkeit den Weidenhelm ab. Seine Gesichtszüge waren schwer zu erkennen. Das Haar war mit Brillantine angeklatscht und am Hinterkopf zu einem sichelförmigen Schwanz zusammengebunden. Die Augen verschwanden hinter einer glatten Meuchelmörderbrille mit matten, infrarotempfindlichen Facetten, die das getönte Licht des Raums zurückwarfen.
Die Musik brach unvermittelt ab, das Mädchen mit der Teeconax war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
»Sie glauben, die Polizei macht eine Razzia«, flüsterte Hegazi. Es war so still geworden, dass er die Stimme nicht zu heben brauchte. »Die hiesigen Bullen schicken die Körbe los, wenn sie keine Lust haben, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.«
Der Komuso ließ seine Fliegenaugen durch den Raum wandern und nahm den Tisch mit Hegazi und Volyova ins Visier. Er konnte den Kopf unabhängig vom restlichen Körper bewegen wie eine Eule. Nun segelte, ja schwebte er mit wehendem Umhang auf die beiden zu. Hegazi zog lässig an seiner Zigarette und schob dabei mit dem Fuß einen freien Stuhl unter dem Tisch hervor.
»Schön, dass Sie da sind, Sajaki.«
Sajaki warf den Weidenhelm auf den Tisch und riss sich die Brille herunter. Dann setzte er sich auf den freien Stuhl, drehte sich um, warf gleichmütig einen Blick durch die Bar und bedeutete den übrigen Gästen mit einer Geste, sich ruhig wieder ihren Getränken zu widmen. Was sie trieben, kümmere ihn nicht. Allmählich kamen die Gespräche wieder in Gang, aber alle Anwesenden beobachteten die drei misstrauisch aus dem Augenwinkel.
»Ich wünschte, wir hätten einen Grund zum Feiern«, sagte Sajaki.
»Haben wir das nicht?«, fragte Hegazi und sah ihn so bestürzt an, wie es ihm seine umfangreichen Gesichtsumwandlungen gestatteten.
»Nein, definitiv nicht.« Die Gläser waren fast leer. Sajaki untersuchte sie genau, dann nahm er Volyovas Glas und kippte den letzten Rest hinunter. »Wie Sie vielleicht an meiner Verkleidung sehen, habe ich ein wenig spioniert. Sylveste ist nicht hier. Er befindet sich schon seit etwa fünfzig Jahren nicht mehr in diesem System.«
»Fünfzig Jahre?« Hegazi pfiff durch die Zähne.
»Dann ist die Spur ziemlich kalt«, bemerkte Volyova. Sie bemühte sich, keine Schadenfreude zu zeigen, aber sie hatte immer gewusst, dass dieses Risiko bestand. Als Sajaki Befehl gegeben hatte, mit dem Lichtschiff Kurs auf das Yellowstone-System zu nehmen, hatte er das auf der Grundlage der damals verfügbaren Informationen getan. Aber das war Jahrzehnte her und die Informationen waren schon damals Jahrzehnte alt gewesen.
»Ja«, sagte Sajaki. »Aber nicht so kalt, wie Sie vielleicht denken. Ich weiß genau, wohin er geflogen ist, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er diesen Ort jemals wieder verlassen hätte.«
»Und wo soll er sein?«, fragte Volyova mit einem flauen Gefühl im Magen.
»Auf einem Planeten namens Resurgam.« Sajaki stellte Volyovas Glas auf den Tisch zurück. »Eine weite Reise, liebe Kollegen. Aber dies wird wohl leider unser nächstes Ziel sein müssen.«
Er fiel wieder in die Vergangenheit zurück.
Diesmal noch weiter, bis ins Alter von zwölf Jahren. Pascales Rückblenden waren nicht chronologisch geordnet; die Biografie nahm keine Rücksicht auf die Feinheiten des linearen Zeitablaufs. Er fand sich nicht gleich zurecht, obwohl er sich von allen Personen im Universum in seiner Geschichte eigentlich am besten hätte auskennen sollen. Aber die Verwirrung wich allmählich der Erkenntnis, dass sie den richtigen Weg ging; es bot sich an, seine Vergangenheit wie ein Mosaik aus untereinander austauschbaren Ereignissen zu behandeln; als Akrostichon, das viele gleichermaßen berechtigte Deutungen enthielt.
Man schrieb das Jahr 2373. Erst wenige Jahrzehnte zuvor hatte Bernsdottir den ersten Schleier entdeckt. Seither waren um dieses Rätsel ganze wissenschaftliche Disziplinen mit zahlreichen staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen entstanden. Das Sylveste-Institut für Schleierweber-Studien war nur eine von Dutzenden solcher Organisationen, aber dahinter stand eine der reichsten — und mächtigsten — Familien der Menschheit. Doch den Durchbruch schafften nicht die großen wissenschaftlichen Institutionen mit ihrer kalkulierten Vorgehensweise, den Durchbruch schaffte ein Einzelner, der blind entschlossen ein wahnsinniges Wagnis einging.
Sein Name war Philip Lascaille.
Er arbeitete als Wissenschaftler für das SISS auf einer der festen Forschungsstationen unweit des später nach ihm benannten Lascaille-Schleiers jenseits des Tau Ceti-Sektors. Außerdem war Lascaille Angehöriger eines Teams, das sich bereithielt, Abgeordnete der Menschheit zum Schleier zu entsenden, falls das jemals erforderlich werden sollte. Das hielt zwar niemand für allzu wahrscheinlich, aber die Kandidaten waren ausgewählt, und es stand auch ein Schiff zur Verfügung, mit dem sie die restlichen fünfhundert Millionen Kilometer bis zum Grenzbereich zurücklegen konnten, sollte jemals eine Einladung erfolgen.
Lascaille entschloss sich, nicht so lange zu warten.
Er ging allein an Bord des SISS-Kontaktschiffs und entführte es. Bis jemand bemerkte, was vorging, war es schon zu spät, um ihn noch aufzuhalten. Man hätte zwar die Fernzerstörung aktivieren können, aber das wagte man nicht, aus Angst, der Schleier könnte sich dadurch bedroht fühlen. Also beschloss man, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Niemand rechnete ernsthaft damit, Lascaille lebend wiederzusehen. Und die Zweifler behielten in gewissem Sinne Recht, denn er kam zwar zurück, aber nur noch mit einem Bruchteil seiner früheren geistigen Fähigkeiten.
Lascaille war ganz nahe an den Schleier herangekommen, um dann von einer unbekannten Kraft zurückgeschleudert zu werden. Möglicherweise war er nur noch zwanzig- bis dreißigtausend Kilometer von der Oberfläche entfernt gewesen, wobei aus dieser Distanz schwer festzustellen war, wo das All aufhörte und der Schleier anfing. Fest stand jedoch, dass er ihm näher gekommen war als je ein Mensch, ja, ein Lebewesen zuvor.
Aber er hatte einen erschreckend hohen Preis dafür bezahlt.
Nicht der ganze Philip Lascaille war zurückgekommen — nicht einmal der größte Teil von ihm. Körperlich war er unversehrt, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die im Grenzbereich von unbekannten Kräften zermalmt und in Stücke gerissen worden waren. Doch dafür war sein Geist unwiderruflich zerstört. Die wenigen Spuren seiner Persönlichkeit, die sich erhalten hatten, betonten die Verwüstungen nur noch mehr. Sein Gehirn konnte seine Lebensfunktionen ohne maschinelle Hilfe steuern und seine motorische Kontrolle schien keinerlei Beeinträchtigung erfahren zu haben. Aber es war keine Intelligenz mehr vorhanden; Lascaille nahm seine Umgebung nur noch in rudimentären Umrissen wahr; er schien nicht zu begreifen, was mit ihm geschehen war, er spürte offenbar nicht einmal, wie die Zeit verging; allem Anschein nach funktionierte weder sein Kurzzeitgedächtnis, noch waren Erlebnisse aus der Zeit vor seinem Flug zum Schleier abrufbar. Artikulieren konnte er sich noch, gelegentlich gab er sogar verständliche Worte oder Satzfragmente von sich, aber aus keiner seiner Äußerungen ließ sich auch nur der geringste Sinn entnehmen.