Lascaille — oder was von ihm noch übrig war — wurde ins Yellowstone-System und dann ins SISS-Habitat zurückgebracht. Dort versuchten medizinische Spezialisten verzweifelt, das Geschehene in eine Theorie zu fassen. Irgendwann — es war mehr ein Akt der Verzweiflung als eine logische Schlussfolgerung — entschieden sie, das fraktalisierte und neu zusammengesetzte Raum-Zeit-Gefüge im Umkreis des Schleiers sei mit der Informationsdichte seines Gehirns überfordert gewesen. Als er die Grenze überschritt, habe es daher sein Bewusstsein auf der Quantenebene randomisiert, ohne die molekularen Prozesse seines Körpers merklich zu verändern. Man könne ihn mit einem Text vergleichen, der durch ungenaue Übertragung in eine andere Sprache viel von seiner Bedeutung verloren habe und anschließend noch einmal rücktranskribiert worden sei.
Dennoch war Lascaille nicht der Letzte, der sich auf ein derart selbstmörderisches Unternehmen einließ. Um seine Person war ein Kult entstanden, der im Wesentlichen behauptete, der Mann zeige zwar alle Anzeichen von Schwachsinn, aber in Wirklichkeit habe ihn der Aufenthalt so dicht am Schleier sozusagen ins Nirwana entrückt. Alle paar Jahre fand sich in der Nähe eines bekannten Schleiers ein Nachahmer, der versuchte, Lascaille in den Grenzbereich zu folgen. Die Strafe war immer gleich schrecklich und kein einziger kam weiter als Lascaille. Wer Glück hatte, verlor nur die Hälfte seines Verstandes, die Pechvögel verschwanden auf Nimmerwiedersehen oder kehrten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt als lachsrosa Paste in ihren Schiffen zurück.
Während der Kult um Lascaille blühte, geriet der Mann selbst rasch in Vergessenheit. Der Anblick eines geifernden, faselnden Irren war vielleicht doch eine Spur zu unerfreulich.
Aber Sylveste vergaß ihn nicht. Mehr noch, er steigerte sich in den Wunsch hinein, dem Mann eine letzte und entscheidende Aussage zu entlocken. Dank seiner familiären Beziehungen konnte er Lascaille sehen, so oft er wollte — vorausgesetzt, er setzte sich über Calvins finstere Warnungen hinweg. Also besuchte er ihn regelmäßig und sah mit Engelsgeduld zu, wie Lascaille seine Zeichnungen auf den Boden kritzelte. Er wusste, irgendwann würde der Mann einen einzigen kurzen Hinweis fallen lassen, und darauf wartete er unermüdlich.
Letztlich bekam er sehr viel mehr.
Er wusste nicht mehr, wie lange er an dem Tag gewartet hatte, als sich seine Geduld endlich auszahlte. Er versuchte, sich nur auf Lascailles Tun zu konzentrieren, aber es fiel ihm zunehmend schwerer. Es war, als betrachte man mit voller Aufmerksamkeit eine lange Reihe von abstrakten Gemälden — irgendwann erlahmte man, so sehr man sich auch bemühte, das Interesse wach zu halten. Lascaille hatte bereits das sechste oder siebte hoffnungslos unverständliche Kreide-Mandala des Tages zur Hälfte beendet und führte immer noch jeden Strich mit leidenschaftlicher Hingabe aus.
Dann wandte er sich unvermittelt an Sylveste und sagte vollkommen vernünftig: »Den Schlüssel finden Sie bei den Schiebern, Doktor.«
Sylveste war zu schockiert, um ihn zu unterbrechen.
»Das hat man mir erklärt«, fuhr Lascaille munter fort. »Im Raum der Erkenntnis.«
Sylveste zwang sich zu nicken, als verstehe sich das von selbst. Ein Teil seines Bewusstseins war noch ruhig genug, um den Ausdruck zu erkennen. Soweit das aus seinen bisherigen Äußerungen abzuleiten war, meinte Lascaille damit das Grenzgebiet im Umkreis des Schleiers — den ›Raum‹, in dem er gewisse ›Erkenntnisse‹ gewonnen hatte, die aber zu kraus und verworren waren, um sie in Worte zu fassen.
Doch jetzt hatte ihm etwas die Zunge gelöst.
»Vor langer Zeit reisten die Schleierweber zwischen den Sternen umher«, begann Lascaille. »Ähnlich wie wir heute — nur war ihre Gattung uralt und hatte schon seit vielen Millionen Jahren Raumfahrt betrieben. Sie waren uns wirklich sehr fremd.« Er hielt inne, um die rote Kreide gegen eine blaue auszuwechseln. Die steckte er sich zwischen die Zehen und setzte damit seine Arbeit am Mandala fort. Mit der frei gewordenen Hand begann er, daneben auf den Boden zu zeichnen. Ein Wesen entstand, vielgliedrig, mit Tentakeln, Panzerplatten und Stacheln, kaum noch symmetrisch. Man hätte es eher für ein Urtier gehalten, das über den Grund eines präkambrischen Meeres kroch, als für den Angehörigen einer raumfahrenden Alien-Kultur. Seine Hässlichkeit war nicht zu überbieten.
»Das ist ein Schleierweber?«, fragte Sylveste und erschauerte vor Glück. »Sie sind tatsächlich einem begegnet?«
»Nein; ich bin nie vollends in den Schleier eingedrungen«, sagte Lascaille. »Aber sie haben Verbindung zu mir aufgenommen. Sie haben sich mir offenbart und mir vieles über ihre Geschichte und ihre Natur mitgeteilt.«
Sylveste riss sich von dem grässlichen Ungeheuer los. »Und was haben die Schieber damit zu tun?«
»Die Musterschieber existieren schon sehr lange und sind auf vielen Welten zu finden. Jede raumfahrende Rasse in diesem Teil der Galaxis stößt früher oder später auf sie.«
Lascaille zeigte auf seine Zeichnung. »So war es auch bei den Schleierwebern, nur sehr viel früher. Verstehen Sie, was ich sage, Doktor?«
»Schon…« Jedenfalls glaubte er zu verstehen. »Aber ich weiß nicht, worauf es hinausläuft.«
Lascaille lächelte. »Wer — oder was — die Schieber aufsucht, wird in ihrem Gedächtnis bewahrt. Und zwar absolut, das heißt — bis zur letzten Zelle, zur letzten Synapsenverbindung. Denn die Schieber sind nichts anderes als ein unermessliches biologisches Archiv.«
Damit hatte er vollkommen Recht. Die Menschen hatten bisher kaum verwertbare Informationen über die Schieber, ihre Ziele oder ihre Herkunft gewonnen. Doch fast von Anfang an hatte sich gezeigt, dass die Schieber fähig waren, menschliche Persönlichkeiten in ihrer Ozean-Matrix zu speichern, so dass jeder, der im Schieber-Meer schwamm — und dabei aufgelöst und neu zusammengesetzt wurde — so etwas wie Unsterblichkeit erlangte. Die Muster konnten später wieder realisiert und vorübergehend dem Bewusstsein eines anderen Menschen aufgeprägt werden. Es war ein schwer durchschaubares biologisches Verfahren, bei dem sich die gespeicherten Muster mit Millionen von anderen Eindrücken vermischten und alle sich unmerklich untereinander beeinflussten. Schon in der Frühzeit der Schieber-Forschung hatte man entdeckt, dass im Ozean auch fremde Denkstrukturen gespeichert waren, Spuren von fremdem Bewusstsein, die in das Denken der Schwimmer eingesickert waren — aber die Eindrücke waren immer unscharf geblieben.
»Die Schleierweber waren also im Gedächtnis der Schieber bewahrt worden?«, fragte Sylveste. »Aber inwiefern hilft uns das weiter?«
»Mehr als Sie ahnen. Die Schleierweber mögen äußerlich fremd sein, aber der Bauplan ihres Bewusstseins weist doch gewisse Ähnlichkeiten mit unserem Denken auf. Vergessen Sie das Aussehen; denken Sie lieber daran, dass es sich um gesellschaftlich lebende Wesen handelt, die sich verbal äußerten und den gleichen Wahrnehmungshorizont hatten wie wir. Man könnte einen Menschen bis zu einem gewissen Grad dazu bringen, wie ein Schleierweber zu denken, ohne dass er seine Menschlichkeit dafür völlig aufgeben müsste.« Wieder sah er Sylveste an. »Für die Schieber wäre es nicht unmöglich, dem Neokortex eines Menschen das Neuraltransform eines Schleierwebers einzuimpfen.«
Eine unheimliche Vorstellung. Man nähme Kontakt mit einem Alien auf, aber nicht, indem man ihm begegnete, sondern indem man mit ihm verschmolz. Falls Lascaille das tatsächlich meinte. »Wie würde uns das helfen?«
»Es würde den Schleier davon abhalten, uns zu töten.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie müssen begreifen, dass der Schleier ein Schutzwall ist. Dahinter befinden sich… nicht nur die Schleierweber selbst, sondern verschiedene Techniken, die zu zerstörerisch sind, als dass sie in die falschen Hände geraten dürften. Die Schleierweber haben über Jahrmillionen die Galaxis nach Gefahren abgesucht, die von ausgestorbenen Rassen zurückgelassen wurden — Dinge, die ich Ihnen nicht einmal annähernd beschreiben kann. Sie mögen einst gute Dienste geleistet haben, aber sie wären auch als Waffen zu verwenden und könnten grauenhafte Verwüstungen anrichten. Es handelt sich um technische Geräte und um Verfahren, mit denen nur hochentwickelte Rassen umgehen können: Manipulationen der Raumzeit, Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit… und noch vieles andere, Dinge, die Ihr Vorstellungsvermögen einfach übersteigen.«