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Nichts von alledem. Ein Schleier tat — soweit das irgendjemand bisher hatte feststellen können — nichts weiter, als alle Strahlungsformen, die ihn zu durchdringen suchten, umfassend zu blockieren. Und er tat natürlich noch etwas: er zerriss jedes Objekt, das sich zu dicht an seine Grenzen heranwagte.

Man hatte ihn aus dem Kälteschlaf geweckt, und jetzt spürte er jene Schwindel erregende Desorientierung, die jede plötzliche Reanimation begleitete. Aber er war noch jung genug, um der Wirkung zu trotzen: biologisch war er erst dreiunddreißig Jahre alt, obwohl seit seiner Geburt mehr als sechzig Jahre vergangen waren.

»Alles… in Ordnung?« Mühsam rang er sich die Frage an die Reanimations-Ärzte ab, während er in das Nichts vor dem Fenster der Station hinausstarrte, das ihn fesselte wie ein schwarzer Schneesturm.

»Sie sind fast im grünen Bereich«, sagte der Arzt neben ihm. Er kontrollierte die Neuralanzeigen, die vor ihm durch die Luft scrollten, und klopfte sich dabei mit dem Eingabestift an die Unterlippe. »Aber Valdez haben wir verloren. Damit rückt Lefevre auf Platz eins vor. Können Sie auch mit ihr arbeiten?«

»Um Bedenken zu äußern, wäre es jetzt doch wohl etwas zu spät, nicht wahr?«

»Das sollte ein Scherz sein, Dan. Also, woran erinnern Sie sich? Reanimations-Amnesie ist das Einzige, worauf ich noch nicht untersucht habe.«

Zunächst fand er die Frage albern, doch dann erforschte er sein Gedächtnis und stellte fest, dass es so träge reagierte wie das Dokumentensuchsystem einer wenig effizienten Bürokratie.

»Erinnern Sie sich an Spindrift?«, fragte der Arzt leicht besorgt. »An Spindrift müssen Sie sich erinnern, das ist sehr wichtig…«

Er erinnerte sich, gewiss — aber im ersten Moment konnte er keine Beziehung zu anderen Erinnerungen herstellen. Woran er sich erinnerte — das Letzte, was nicht zusammenhanglos im Nichts schwebte — war Yellowstone. Sie hatten es zwölf Jahre nach den Achtzig verlassen; zwölf Jahre, nachdem Philip Lascaille mit Sylveste gesprochen hatte; zwölf Jahre, nachdem sich der Mann ertränkt hatte, weil seine Aufgabe offenbar erfüllt war.

Es war eine kleine, aber gut ausgerüstete Expeditionsmannschaft — die zum Teil aus Chimären bestehende Lichtschiff-Besatzung, Ultranauten, die mit der übrigen Menschheit nur wenig Umgang pflegten; zwanzig Wissenschaftler, zumeist aus den Reihen des SISS; und vier Kandidaten für den Fall, dass es zum Kontakt kam. Nur zwei von den vieren sollten tatsächlich bis zum Schleier reisen.

Lascailles Schleier war das Ziel, aber er war nicht die erste Station. Sylveste hatte sich Lascailles Rat zu Herzen genommen. Die Musterschieber waren von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Mission. Deshalb musste man zuerst ihre Welt anfliegen, die zwanzig bis dreißig Lichtjahre vom Schleier entfernt war. Sylveste hatte sich auch damals noch kaum vorstellen können, was ihn dort erwartete. Aber er hatte Lascaille mehr oder weniger blind vertraut. Der Mann hatte sein Schweigen gewiss nicht ohne Grund gebrochen.

Die Schieber galten seit über hundert Jahren als Kuriosität. Jede der Welten, auf denen sie lebten, wurde von einem einzigen, den ganzen Planeten bedeckenden Ozean beherrscht. Die Schieber selbst waren ein biochemisches Bewusstsein, das diese Ozeane durchsetzte, ein Zusammenschluss von Mikroorganismen, die zu inselgroßen Gebilden verklumpt waren. Alle Schieberwelten waren tektonisch aktiv und einigen Theorien zufolge bezogen die Schieber ihre Energie aus hydrothermalen Spalten auf dem Meeresboden. Die Wärme wurde in bioelektrische Energie umgewandelt und diese wiederum über organische Supraleiterfäden kilometerweit durch die schwarze Kälte an die Oberfläche geleitet. Wonach die Schieber strebten — wenn überhaupt — war vollkommen unbekannt. Es lag auf der Hand, dass sie die Biosphären der Welten beeinflussen konnten, auf denen sie sich ausgesät hatten, indem sie wie eine intelligente Phytoplankton-Masse agierten — aber ob das womöglich nur Mittel zu einem unbekannten höheren Zweck war, wusste niemand. Bekannt — aber ebenfalls ungenügend erforscht — war nur die Fähigkeit der Schieber, wie ein einziges weltumspannendes neurales Netz Informationen zu speichern und wieder abzurufen. Die Speicherung erfolgte in verschiedenen Medien, von losen Fadengeflechten, die an der Oberfläche trieben, bis zu frei schwebenden RNA-Strängen. Wo die Meere begannen und die Schieber aufhörten, war nicht festzustellen — ebenso wenig ließ sich entscheiden, ob eine Welt viele Schieber oder nur ein einziges, beliebig erweiterbares Individuum beherbergte, denn auch die Inseln waren über organische Brücken miteinander verbunden. Die Schieber waren also lebende Datenbanken von der Größe einer Welt; riesige Informationsschwämme. Fast alles, was in einen Schieber-Ozean eintauchte, wurde von mikroskopischen Fäden durchdrungen und teilweise aufgelöst. Dann wurden die physikalischen und chemischen Eigenschaften analysiert und die gewonnenen Informationen in den biochemischen Speicher des Ozeans integriert. Lascaille hatte unterstellt, dass die Schieber solche Muster nicht nur verschlüsseln, sondern auch übertragen konnten. Vermutlich hatten sie auch die geistigen Strukturen anderer Gattungen gespeichert, die mit ihnen in Berührung gekommen waren — zum Beispiel die der Schleierweber.

Menschliche Forschungsteams beschäftigten sich seit Jahrzehnten mit den Musterschiebern. Wenn ein Mensch in einem schieberdurchsetzten Meer schwamm, konnte er mit dem Organismus in psychischen Kontakt treten. Die Schieber führten Mikrofäden in den menschlichen Neokortex ein und stellten so quasi-synaptische Verbindungen zwischen dem Bewusstsein des Schwimmers und dem Rest des Ozeans her. Für den Menschen war es, als kommuniziere er mit empfindungsfähigen Algen. Geübte Schwimmer berichteten, ihr Bewusstsein hätte sich über den gesamten Ozean ausgebreitet, und sie hätten ein üppig wucherndes, bis in Urzeiten zurückreichendes Gedächtnis entwickelt. Die Grenzen ihrer Wahrnehmung seien fließend geworden, aber sie hätten in keiner Phase das Gefühl gehabt, als sei sich der Ozean seiner selbst bewusst. Er sei eher mit einem Spiegel zu vergleichen, der das menschliche Bewusstsein in allen Einzelheiten reflektiere: Solipsismus in letzter Konsequenz. Die Schwimmer gelangten zu überraschenden mathematischen Einsichten, so als habe der Ozean ihre Kreativität gesteigert. Einige meldeten sogar, diese Schübe hätten noch eine Weile nach dem Verlassen der Ozean-Matrix und der Rückkehr auf das Festland oder in den Orbit angehalten. Womöglich sei ihr Bewusstsein sogar physikalisch verändert worden?

So entstand der Begriff des Schieber-Transforms. Durch eine Zusatzausbildung lernten die Schwimmer, bestimmte Transformationen auszuwählen. Auf der Schieberwelt stationierte Neurologen versuchten, die von den Aliens bewirkten Gehirnveränderungen zu beschreiben, hatten aber nur Teilerfolge zu verzeichnen. Die Transformationen waren außergewöhnlich subtil, das Gehirn wurde nicht auseinandergerissen und neu zusammengesetzt, sondern eher umgestimmt wie eine Geige. Sie waren auch meist nicht von Dauer — nach Tagen, Wochen, selten auch erst nach Jahren verschwanden sie wieder.

So weit war die Wissenschaft gekommen, als Sylvestes Expedition die Schieberwelt Spindrift erreichte. Jetzt fiel ihm natürlich alles wieder ein — die Ozeane, die Gezeiten, die Vulkanketten und der durchdringende Tanggeruch des Organismus. Dieser Geruch öffnete alle Türen. Die vier Kandidaten für eine Delegation zu den Schleierwebern hatten sich die Kreidezeichnung tief ins Bewusstsein eingeprägt. Nachdem sie monatelang mit guten Schwimmern trainiert hatten, stiegen sie in den Ozean und vergegenwärtigten sich die Form, die ihnen Lascaille gegeben hatte.