Dann drang der Schieberorganismus ein, löste Teile ihres Bewusstseins auf und strukturierte sie nach seinen eigenen integrierten Schablonen um.
Als die vier wieder auftauchten, hatte es zunächst den Anschein, als sei Lascaille doch verrückt gewesen.
Sie legten weder fremde oder erschreckende Verhaltensweisen an den Tag, noch hatten sie plötzlich alle Antworten auf die großen Rätsel des Universums gefunden. Auf Befragen versicherten sie, ihr Befinden sei mehr oder weniger unverändert und sie hätten auch keine neuen Erkenntnisse über die Identität oder das Wesen der Schleierweber gewonnen. Aber empfindliche neurologische Tests drangen weiter in die Tiefe vor als die menschliche Intuition. Das räumliche Denken und die kognitiven Fähigkeiten der vier hatten sich verändert, allerdings war die Art der Veränderung unglaublich schwer zu messen. In den folgenden Tagen berichteten die Versuchspersonen von widersprüchlichen Gemütszuständen, die ihnen zugleich vertraut und vollkommen fremd waren. Dass sich etwas verändert hatte, war offensichtlich, aber niemand wusste, ob diese seltsamen Anwandlungen in irgendeiner Weise mit den Schleierwebern zu tun hatten.
Dennoch tat Eile not.
Sobald die ersten Tests abgeschlossen waren, versetzte man die vier Kandidaten in Kälteschlaf. Die Kälte bewahrte die Schieber-Transforme, aber sie würden unweigerlich zerfallen, wenn die Versuchspersonen geweckt wurden, obwohl man dem Prozess mit einer ausgefeilten Therapie mit noch ungeprüften Neurostabilisatoren entgegenzuwirken suchte. Die Kandidaten verschliefen den Flug und auch die folgenden Wochen, in denen die Beobachtungsstation den nominellen Sicherheitsabstand von 3 AE, den sie bis dahin eingehalten hatte, vorsichtig verringerte. Sie wurden erst am Abend vor ihrem Aufbruch zum Schleier geweckt.
»Ich… erinnere mich«, sagte Sylveste. »An Spindrift.« Eine kleine Pause trat ein. Der Arzt klopfte sich weiterhin mit dem Stift gegen die Unterlippe, während er die riesigen Informationsmengen aus den medizinischen Analysesystemen aufnahm. Dann nickte er und gab ihn für die Mission frei.
»Die alte Stadt hat sich ziemlich verändert«, sagte Manoukhian.
Khouri sah es selbst. Was da unter ihr lag, war kaum noch als Chasm City zu erkennen. Das Moskitonetz war verschwunden. Die Stadt war den Elementen wieder schutzlos preisgegeben, die Gebäude, die einst unter einem Meer von Kuppeln Geborgenheit gefunden hatten, ragten nackt in Yellowstones Atmosphäre. Das schwarze Château der Mademoiselle gehörte nicht mehr zu den höchsten Bauten. Terrassenförmig ansteigend stießen riesige Ungeheuer, durchsiebt von Dutzenden winziger Fenster, geschmückt mit den riesigen Boole-Symbolen der Synthetiker, stromlinienförmig wie Haiflossen oder Spinifex-Gräser in den bräunlichen Gluthimmel. Wie die Segel einer Jacht ragten Gebäude auf schlanken Masten aus den Resten des Mulch, so dass sich der Wind an ihren Vorderkanten brach. Nur hier und dort waren noch einige der knorrig verkrümmten Bauwerke von damals zu sehen, vom Baldachin war nur ein kümmerlicher Rest geblieben. Den alten Stadtwald hatten die glänzenden Messertürme gnadenlos zerhackt — er war Geschichte.
»Man hat im Abgrund einen Organismus gezüchtet«, sagte Manoukhian. »Ganz unten in der Spalte. Man nennt ihn Lilly.« Ekel und Faszination sprachen aus seiner Stimme. »Augenzeugen beschreiben ihn als riesiges, atmendes Gekröse — wie ein Stück von Gottes Magen. Er haftet an den Wänden des Abgrunds. Die Gase, die aus den Tiefen aufsteigen, sind giftig, aber wenn sie Lilly passiert haben, sind sie mit knapper Not atembar.«
»Und das alles in zweiundzwanzig Jahren?«
»Ja«, antwortete eine Stimme. In den glänzend schwarzen Panzerjalousien spiegelte sich eine Bewegung. Khouri drehte sich rasch um und sah einen Palankin, der lautlos stehen blieb. Der Anblick weckte Erinnerungen an die Mademoiselle und an vieles andere. Es war, als sei seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr als eine Minute vergangen.
»Ich danke dir, dass du sie hergebracht hast, Carlos.«
»War das alles?«
»Ich denke schon.« Die Stimme hallte nach. »Die Zeit drängt nämlich. Auch nach so vielen Jahren noch. Ich habe ein Schiff ausfindig gemacht, das jemanden wie Khouri sucht, aber es bleibt nur ein paar Tage, bevor es das System wieder verlässt. Khouri muss also informiert, auf ihre Rolle vorbereitet und der Besatzung vorgestellt werden, bevor uns die Chance durch die Lappen geht.«
»Und wenn ich nein sage?«, fragte Khouri.
»Aber Sie werden nicht nein sagen, nicht wahr? Nicht mehr, seit Sie wissen, was ich Ihnen zu bieten habe. Oder haben Sie das vergessen?«
»So etwas vergisst man nicht so leicht.« Sie erinnerte sich jetzt ganz deutlich, was ihr die Mademoiselle gezeigt hatte: der zweite Kälteschlaftank war besetzt. Fazil lag darin, ihr Mann. Allem, was man ihr erzählt hatte, zum Trotz, war sie nie von ihm getrennt gewesen. Sie hatten Sky’s Edge gemeinsam verlassen, die Verwechslung war harmloser gewesen, als sie dachte. Aber man hatte sie getäuscht. Die Handschrift der Mademoiselle war von Anfang an zu erkennen. Es war schon ein wenig zu einfach gewesen, als Killer bei den Schatten unterzukommen; im Rückblick war klar, dass man dabei nur ihre, Khouris, Eignung für die bevorstehende Aufgabe hatte prüfen wollen. Sie gefügig zu machen war danach ein Kinderspiel. Die Mademoiselle hatte Fazil. Wenn Khouri es ablehnte zu tun, was man von ihr verlangte, würde sie ihren Mann nie Wiedersehen.
»Ich wusste, dass Sie vernünftig sein würden«, sagte die Mademoiselle. »Was ich von Ihnen will, ist wirklich nicht so schwierig, Khouri.«
»Was sind das für Leute, für die ich arbeiten soll?«
»Es sind Händler«, beschwichtigte Manoukhian. »Das war ich früher auch einmal. Deshalb konnte ich zu Hilfe kommen, als…«
»Genug, Carlos.«
»Verzeihung.« Er sah sich nach dem Palankin um. »Ich will nur sagen, sie können so schrecklich nicht sein.«
Ob es Zufall war oder ob eine unbewusste Absicht dahinter steckte, war nie vollkommen klar, jedenfalls ähnelte das Kontaktmodul der SISS dem Unendlichkeitszeichen: zwei Kapseln vollgepackt mit Geräten zur Lebenserhaltung, Sensoren und Kommunikationstechnik bildeten die beiden Halbschleifen, dazwischen befand sich ein mit Korrekturtriebwerken und weiteren Sensorfeldern besetzter Kragen. Jede Hälfte bot Platz für zwei Personen, und sollte es bei einem der Abgeordneten während der Mission zu einem Neuralversagen kommen, so konnten eine oder auch beide Kapseln abgesprengt werden.
Das Kontaktmodul baute Schub auf und stürzte auf den Schleier zu, während sich die Station in Richtung auf das Lichtschiff hinter die Sicherheitszone zurückzog. Pascales Schilderung zeigte, wie das Modul immer kleiner wurde. Bald waren nur noch das grelle Blau aus den Triebwerken und die roten und grünen Blinklichter der Positionsbeleuchtung zu sehen. Endlich verblassten auch sie und wurden von der Schwärze verschluckt wie von einem sich ausbreitenden Tintenfleck.
Niemand wusste genau, was dann geschah. Die meisten der Informationen, die Sylveste und Lefevre beim Anflug gesammelt hatten, gingen in den folgenden Ereignissen verloren, auch die Daten, die zur Station und zum Lichtschiff übertragen wurden. Weder der zeitliche Rahmen noch die chronologische Abfolge der Ereignisse konnten eindeutig festgelegt werden. Bekannt war nur, woran Sylveste selbst sich erinnerte — und da sein Bewusstsein in der Nähe des Schleiers nach eigenem Eingeständnis zeitweilig anders oder nur eingeschränkt funktionierte, konnte man seine Berichte nicht ganz wörtlich nehmen.