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Bekannt war Folgendes. Sylveste und Lefevre flogen näher an den Schleier heran als je ein Mensch zuvor — Lascaille eingeschlossen. Wenn Lascaille die Wahrheit gesagt hatte, konnten ihre Schieber-Transforme die Verteidigungseinrichtungen des Schleiers täuschen und sie zwingen, die Einlass Suchenden mit einer Blase aus abgeflachter Raumzeit zu schützen, während im übrigen Grenzgebiet heimtückische Gravitationswirbel brodelten. Wie das zugehen sollte, war nach wie vor unbegreiflich. Niemand behauptete zu verstehen, wie die Mechanismen im Innern des Schleiers die Raumzeit so aberwitzig stark krümmen konnten, wenn schon für eine unendlich viel weniger scharfe Falte mehr Energie erforderlich gewesen wäre, als in der gesamten Restmasse der Galaxis enthalten war. Ebenso wenig konnte man sich vorstellen, wie es möglich war, dass Bewusstsein in die Raumzeit im Umkreis des Schleiers einsickerte und dem Schleier verriet, was für ein Wesen sich Zugang zu verschaffen suchte, während er gleichzeitig die Gedanken und Erinnerungen ebendieser Wesen veränderte. Offenbar gab es eine geheime Verbindung, ja eine gegenseitige Beeinflussung zwischen dem Denken und den Prozessen, auf denen die Raumzeit aufbaute. Sylveste hatte Hinweise auf eine seit Jahrhunderten überholte Theorie gefunden, wonach angeblich über die Vereinheitlichung eines so genannten Weyl-Tensors eine Verbindung zwischen den Quantenprozessen des Bewusstseins und den Mechanismen der Quantengravitation bestand, auf denen die Struktur der Raumzeit beruhte… aber beim Verständnis des Bewusstseins war man seit damals nicht weiter gekommen, und die Theorie war so spekulativ wie eh und je. Aber vielleicht wurde im Umfeld des Schleiers auch ein noch so schwaches Band zwischen Bewusstsein und Raumzeit massiv verstärkt. Sylveste und Lefevre dachten sich durch den Sturm und beruhigten mit ihrem veränderten Bewusstsein die ringsum nur wenige Meter von ihrem Schiff entfernt tobenden Gravitationskräfte. Sie bewegten sich wie zwei Schlangenbeschwörer, die sich mit ihrer Musik einen kleinen Schutzraum schufen, durch eine Grube voller Kobras. Wobei sie nur so lange in Sicherheit waren, bis die Musik zu spielen aufhörte — oder misstönend wurde — und die Schlangen aus ihrer hypnotischen Lethargie aufschreckten. Wie nahe Sylveste und Lefevre dem Schleier kamen, bevor die Musik umschlug und die Gravitationskobras sich regten, wusste hinterher niemand genau zu sagen.

Sylveste behauptete, sie seien nie im eigentlichen Grenzgebiet gewesen — er habe mit eigenen Augen noch mehr als die Hälfte des Himmels voller Sterne gesehen. Doch nach den wenigen Daten, die aus dem Forschungsschiff gerettet wurden, war das Kontaktmodul zu diesem Zeitpunkt schon tief ins Innere des Fraktalschaums um den Schleier — in die unendlich verschwommene Grenzzone um das Objekt, in den von Lascaille so genannten ›Raum der Erkenntnis‹ — eingedrungen.

Lefevre spürte es, als es anfing. Tief erschüttert, aber mit eisiger Ruhe teilte sie Sylveste mit, ihr Schleierweber-Transform sei im Begriff zu zerfallen, die fremde Bewusstseinsschicht würde immer dünner und lege das menschliche Denken frei. Genau das hatten sie die ganze Zeit befürchtet, zugleich aber gehofft, dass es ihnen erspart bleiben möge.

Rasch informierten sie die Beobachtungsstation und überprüften mit einigen Psychotests die Diagnose. Die Wahrheit zeigte sich bestürzend deutlich. Ihr Transform brach zusammen. In wenigen Minuten würde die Schleierweber-Komponente aus ihrem Bewusstsein verschwunden sein. Sie stand kurz davor, die Musik zu vergessen, mit der sich die Schlangen beruhigen ließen.

Obwohl sie inständig gehofft hatten, dass es nicht so weit kommen würde, hatten sie Vorkehrungen getroffen. Lefevre zog sich in die zweite Hälfte des Moduls zurück, zündete die Trennladungen und sprengte ihren Teil des Schiffes ab. Inzwischen war von ihrem Transform fast nichts mehr übrig. Über die audiovisuelle Verbindung zwischen den beiden Kapseln berichtete sie Sylveste, sie könne spüren, wie sich die Gravitationskräfte aufbauten und heimtückisch und unberechenbar an ihrem Körper zerrten.

Die Triebwerke arbeiteten mit aller Kraft, um die Kapsel aus den wilden Strudeln um den Schleier herauszubringen, aber das Objekt war einfach zu groß, und sie war zu klein. Minuten später wurde der dünne Schiffsrumpf von gravitationellen Spannungen geschüttelt. Lefevre kauerte sich wie ein Embryo in die immer kleiner werdende Raumblase um ihr Gehirn und blieb am Leben. Sylveste verlor den Kontakt mit ihr, als die Kapsel zerplatzte. Die Luft entwich rasch, aber die Dekompression erfolgte nicht schnell genug. Er konnte ihre Schreie noch hören.

Lefevre war tot. Sylveste wusste es. Aber sein Transform hielt die Schlangen noch in Schach. Tapfer setzte er den Flug in das Grenzgebiet des Schleiers fort. Er war der einsamste Mensch aller Zeiten.

Einige Zeit später erwachte Sylveste. In seiner Kapsel war alles still. Er wusste nicht, wo er war. Er nahm an, dass man auf der Beobachtungsstation auf seine Rückkehr wartete, und versuchte, Kontakt aufzunehmen. Doch er erhielt keine Antwort. Die Beobachtungsstation und das Lichtschiff trieben leblos und weitgehend zerstört im All. Der Gravitationsschub, der an ihm vorbeigezogen war, hatte sie auseinandergerissen und ebenso gründlich ausgeschlachtet wie Lefevres Kapsel. Die Besatzung und die Ersatzkandidaten waren sofort tot gewesen, die Ultras ebenfalls. Er war der einzige Überlebende.

Aber was nützte ihm das? Sollte er nur langsamer sterben?

Sylveste steuerte das Modul zu den Überresten der Station und des Lichtschiffs zurück. An die Schleierweber dachte er vorerst nicht mehr, er hatte genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.

Während der folgenden Wochen lebte Sylveste ganz allein in der engen Kapsel und bemühte sich, die beschädigten Reparatursysteme des Lichtschiffs notzustarten. Bei dem Gravitationsschub, den der Schleier ausgelöst hatte, waren Tausende von Tonnen der Lichtschiffmasse in Stücke gerissen oder verdampft worden, andererseits brauchte das Schiff jetzt nur noch einen Mann nach Hause zu bringen. Als die Umwandlungsprozesse eingeleitet waren, fand er endlich wieder Schlaf — obwohl er an eine Rettung noch immer nicht zu glauben wagte. Erst seine Träume offenbarten ihm allmählich die ungeheuerliche, alle Kräfte lähmende Wahrheit. Während seiner Bewusstlosigkeit nach Carine Lefevres Tod war etwas geschehen. Etwas war in seinen Geist eingedrungen und hatte zu ihm gesprochen. Aber die Botschaft war so brutal fremd, dass Sylveste nicht fähig war, sie in menschliche Begriffe zu übersetzen. Er war in den Raum der Erkenntnis eingetreten.

Fünf

Orbitalkarussell New Brazilia,

Yellowstone, Epsilon Eridani

2546

Volyova blieb am Eingang zum Schieber und Weber stehen. »Ich bin an der Bar«, sagte sie in ihr Armband. Sie bedauerte schon, diesen Treffpunkt vorgeschlagen zu haben — sie fand das Lokal kaum weniger abstoßend als seine Gäste —, doch als sie das Treffen mit dem Kandidaten vereinbarte, war ihr keine Alternative eingefallen.

»Ist die Neue schon da?«, ließ sich Sajakis Stimme vernehmen.

»Dann wäre sie sehr früh gekommen. Wenn sie pünktlich ist und unser Treffen einen positiven Verlauf nimmt, müssten wir in einer Stunde wieder gehen.«

»Ich halte mich bereit.«

Sie nahm die Schultern zurück, trat rasch ein und stellte im Geiste sofort einen Sitzplan auf. Die Luft war immer noch von diesem widerlich süßen rosa Rauch erfüllt. Auch das Mädchen mit der Teeconax machte noch die gleichen hektischen Bewegungen. Quälend klare Töne entströmten ihrem Kortex, wurden vom Instrument verstärkt und per Fingerdruck auf dem komplexen, berührungsempfindlichen, in allen Spektralfarben schillernden Griffbrett moduliert. Die Ragamotive schraubten sich mühsam in die Höhe und zersprangen zu nervenzerreißend atonalen Passagen, als zöge ein ganzes Rudel Löwen die Krallen über rostige Eisenbleche. Volyova hatte gehört, dass man Teeconax-Musik nur schätzen könne, wenn man mit speziellen neuro-auralen Implantaten ausgestattet war.