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Sie setzte sich auf einen Barhocker und bestellte einen einfachen Wodka. In ihrer Tasche steckte eine Injektionsspritze, die sie notfalls mit einem Schlag wieder nüchtern machen konnte. Sie war darauf gefasst, dass es den ganzen Abend dauern konnte, bis die Neue auftauchte. Normalerweise wäre sie ungeduldig gewesen, aber jetzt war sie trotz der Umgebung entspannt und dabei zugleich hellwach. Sie war selbst überrascht. Vielleicht hatte man psychotrope Substanzen in die Luft geblasen, jedenfalls fühlte sie sich besser als seit Monaten, und das, obwohl sie wusste, dass sie nach Resurgam weiterfliegen mussten. Es tat gut, wieder unter Menschen zu sein, auch wenn es nur die Typen in dieser Bar waren. Minutenlang tat sie nichts anderes, als die Gesichter der Gäste zu beobachten, deren angeregte Unterhaltung sie nicht hören konnte, und sich auszumalen, was für spektakuläre Reiseberichte sie wohl austauschen mochten. Ein Mädchen rauchte eine Wasserpfeife und stieß eine dicke Rauchwolke aus, bevor sie sich über einen Witz vor Lachen ausschüttete, den ihr Gesprächspartner erzählte. Ein kahlköpfiger Mann mit einer Drachentätowierung auf dem Schädel prahlte, wie er mit ausgefallenem Autopiloten durch die Atmosphäre eines Gasriesen geflogen sei und sein schieber-konfiguriertes Bewusstsein Flussgleichungen löste, als habe er von Geburt an nichts anderes getan. In einer gespenstisch blau erleuchteten Nische war eine Ultra-Gruppe in ein hitziges Kartenspiel vertieft. Ein Mann hatte offenbar soeben einen seiner Zöpfe verloren. Seine Freunde hielten ihn fest, während der Gewinner seinen Preis einforderte und den Zopf mit einem Taschenmesser absäbelte.

Wie sah diese Khouri eigentlich aus?

Volyova fischte eine Karte aus ihrer Jacke, barg sie unauffällig in der Hand und warf einen letzten Blick darauf. Der Name Ana Khouri stand unter dem Foto, dann folgten ein paar Zeilen mit biografischen Angaben. In einer normalen Bar wäre die Frau niemandem aufgefallen, doch hier hätte ein so alltägliches Aussehen genau die entgegengesetzte Wirkung. Dem Bild nach zu schließen passte sie womöglich noch weniger in diesen Rahmen als Volyova selbst.

Volyova konnte nicht klagen. Diese Khouri schien für die freie Stelle wie geschaffen zu sein. Volyova hatte sich in die Datennetze des Yellowstone-Systems hineingehackt — soweit sie die Seuche überstanden hatten — und eine Liste von in Frage kommenden Kandidaten aufgestellt. Khouri, ehemals Soldatin auf Sky’s Edge, war in die engere Wahl gekommen. Aber diese Khouri erwies sich als unauffindbar, und schließlich hatte Volyova aufgegeben und sich auf andere Anwärter konzentriert. Zwar entsprach von denen keiner genau ihren Anforderungen, aber sie hatte die Suche fortgesetzt. Als ein Kandidat nach dem anderen durch das Raster fiel, war sie zusehends verzagt. Sajaki hatte mehrfach vorgeschlagen, doch einfach jemanden zu entführen — schließlich wäre das auch nicht schlimmer, als ihn unter falschen Voraussetzungen anzuwerben. Aber eine Entführung war zu unsicher: sie garantierte nicht, dass sie am Ende jemanden hatte, mit dem sie auch zurecht kam.

Und dann hatte sich Khouri plötzlich von sich aus gemeldet. Sie wolle Yellowstone verlassen und habe gehört, dass auf Volyovas Schiff noch jemand gesucht werde. Ihre militärischen Erfahrungen hatte sie nicht erwähnt, aber darüber war Volyova ja bereits im Bild. Khouri war sicher nur vorsichtig. Sonderbar war lediglich, dass sie erst von sich hatte hören lassen, als Sajaki — wie es die Gepflogenheiten des interstellaren Handels verlangten — den neuen Zielhafen bekannt gegeben hatte.

»Captain Volyova? Sie sind es doch, nicht wahr?«

Khouri war klein und drahtig. Ihre Kleidung war schlicht und orientierte sich an keiner bekannten Ultra-Mode. Das schwarze Haar trug sie nur wenige Zentimeter länger als Volyova, kurz genug, um deutlich zu zeigen, dass sie weder klobige Input-Anschlüsse noch Neural-Schnittstellen im Schädel hatte. Das bedeutete zwar noch nicht, dass in ihrem Kopf nicht unzählige Maschinchen summten, aber sie ging jedenfalls nicht damit hausieren. In ihren Zügen mischten sich die wichtigsten Genotypen ihrer Heimatwelt Sky’s Edge; es war ein ebenmäßiges, aber nicht auffallend schönes Gesicht. Der kleine Mund mit den schmalen Lippen war nicht sehr ausdrucksvoll, aber das glichen die Augen wieder aus. Sie waren tief dunkel, fast schwarz und strahlten ein intuitives Wissen aus, das entwaffnend wirkte. Einen winzigen Moment lang fürchtete Volyova, Khouri hätte ihr schäbiges Lügengespinst bereits durchschaut.

»Ja«, sagte Volyova. »Und Sie müssen Ana Khouri sein.« Sie sprach leise. Nachdem sie Khouri jetzt gefunden hatte, wollte sie auf jeden Fall vermeiden, dass andere Stellungsuchende ihr Gespräch belauschten und versuchten, im letzten Augenblick an Bord zu kommen. »Sie haben Kontakt zu unserer Agentenpersönlichkeit aufgenommen und sich nach einer Beschäftigung auf unserem Schiff erkundigt.«

»Ich bin erst vor kurzem auf dem Karussell angekommen und wollte es zuerst bei Ihnen probieren, bevor ich zu den Besatzungen ging, die Stellen ausgeschrieben hatten.«

Volyova roch an ihrem Wodka. »Ungewöhnliche Strategie, wenn ich das sagen darf.«

»Wieso? Die anderen Crews bekommen so viele Bewerbungen, dass sie ihre Gespräche nur noch über Sims führen.« Sie trank mechanisch einen Schluck Wasser. »Ich verhandle lieber mit Menschen. Deshalb musste ich mir eine andere Besatzung suchen.«

»Oh«, sagte Volyova. »Die unsere ist anders, das können Sie mir glauben.«

»Aber Sie sind Händler, ja?«

Volyova nickte begeistert. »Wir haben unsere Geschäfte im Gebiet um Yellowstone fast abgeschlossen. Allzu einträglich waren sie leider nicht. Die Wirtschaft steckt in der Flaute. Wahrscheinlich kommen wir in ein- oder zweihundert Jahren wieder vorbei und sehen nach, ob sie sich erholt hat, aber ich persönlich hätte nichts dagegen, diese Welt nie wiederzusehen.«

»Wenn ich bei Ihnen anheuern wollte, müsste ich mich also schnell entscheiden?«

»Zuerst müssten wir uns natürlich für Sie entscheiden.«

Khouri sah sie scharf an. »Es gibt noch andere Kandidaten?«

»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«

»Ich könnte es mir schon denken. Sky’s Edge… sicher eine Welt, wo mancher gerne hin möchte, auch wenn er sich die Passage erarbeiten müsste.«

Sky’s Edge? Volyova bemühte sich, keine Miene zu verziehen, aber sie konnte ihr Glück kaum fassen. Khouri hatte sich also nur gemeldet, weil sie immer noch glaubte, die Sehnsucht nach Unendlichkeit flöge nach Sky’s Edge anstatt nach Resurgam. Aus irgendeinem Grund hatte sie nicht mitbekommen, dass Sajaki den Zielhafen geändert hatte.

»Es gibt sicher schlechtere Welten«, sagte Volyova.

»Wie auch immer, ich wäre gern auf Platz eins der Kandidatenliste.« Eine Plexiglas-Wolke kam voll beladen mit Getränken und Drogen über die Deckenschiene gefahren. »Was für eine Position haben Sie eigentlich zu vergeben?«

»Das kann ich Ihnen alles viel einfacher an Bord erklären. Sie haben doch Ihre Reisetasche mitgebracht?«

»Selbstverständlich. Ich bin schließlich wirklich scharf auf den Posten.«

Volyova lächelte. »Freut mich zu hören.«

Cuvier, Resurgam

2563

Calvin Sylveste manifestierte mit seinem Thronsessel an einem Ende der Gefängniszelle. »Ich habe dir eine interessante Mitteilung zu machen«, sagte er und strich sich den Bart. »Aber du wirst vermutlich nicht sehr davon angetan sein.«

»Mach’s kurz; Pascale muss jeden Moment eintreffen.«

Calvins spöttische Miene vertiefte sich noch. »Eigentlich geht es gerade um Pascale. Du hast sie recht gern, nicht wahr?«

»Das geht dich gar nichts an.« Sylveste seufzte; mit solchen Schwierigkeiten hatte er gerechnet. Die Biografie näherte sich ihrer Vollendung, und er hatte die meisten Teile gesichtet. Trotz aller Präzision in technischen Dingen, trotz der unzähligen Sichtweisen, die geboten wurden, blieb das Werk das, was Girardieu immer geplant hatte: eine raffinierte, ungemein präzise Propagandawaffe. Der subtile Filter der Biografie verhinderte, dass man irgendeinen Teil seiner Vergangenheit in einer Art und Weise sah, die für ihn nicht abträglich gewesen wäre. Stets erschien er als egozentrischer Tyrann mit Scheuklappen: ein Mann von hoher Intelligenz, der aber die Menschen um sich herum skrupellos für seine Zwecke benutzte. Dabei war Pascale mit unbestreitbarem Geschick zu Werke gegangen. Hätte Sylveste die Fakten nicht besser gekannt, er hätte die Tendenz der Biografie unkritisch übernommen. Sie trug den Stempel der Wahrheit.