Schon das war schwer zu verkraften, unendlich viel härter traf ihn jedoch, wie viel von dieser negativen Darstellung durch Aussagen von Menschen geprägt war, die ihn gekannt hatten. Und an vorderster Front stand Calvin. Das schmerzte am meisten. Sylveste hatte Pascale nur zögernd Zugang zu seiner Beta-Simulation gewährt. Man hatte ihn unter Druck gesetzt, aber damals hatte es noch so ausgesehen, als würde er dafür entschädigt.
»Ich möchte, dass der Obelisk gesucht und ausgegraben wird«, sagte Sylveste. »Girardieu hat mir Einblick in die Forschungsdaten versprochen, wenn ich bei der Demontage meines Charakters behilflich wäre. Ich habe meine Seite des Abkommens getreulich erfüllt. Wie wäre es, wenn sich die Regierung jetzt erkenntlich zeigte?«
»Das ist nicht so einfach…«, hatte Pascale angesetzt.
»Nein; aber es verursacht den Flutern auch keine allzu großen Kosten.«
»Ich werde mit ihm reden«, versprach sie. Es klang wenig überzeugend. »Vorausgesetzt, ich darf mit Calvin sprechen, wann immer ich will.«
Es war ein vertracktes Abkommen, das hatte er von vornherein gewusst. Aber er hatte geglaubt, es würde sich lohnen. Auf jeden Fall wollte er den Obelisken Wiedersehen, den ganzen Obelisken, nicht nur den kleinen Teil, der noch vor dem Umsturz freigelegt worden war.
Nils Girardieu hatte erstaunlicherweise Wort gehalten. Zwar hatte es vier Monate gedauert, aber dann hatte ein Team die verlassene Grabung gefunden und den Obelisken gehoben. Sehr sorgfältig war man nicht damit umgegangen, aber das hatte Sylveste auch nicht erwartet. Es genügte, dass das Ding in einem Stück herausgekommen war. Jetzt konnte er eine holografische Repräsentation davon in seiner Zelle abrufen, wann immer er wollte, und jeden Abschnitt der Oberfläche in Vergrößerung genauer untersuchen. Der Text war verlockend; die Analyse schwierig. Die komplizierte Karte des Sonnensystems erschien ihm immer noch erschreckend exakt. Darunter — zu tief, als dass man sie früher hätte entdecken können — befand sich eine zweite, in sehr viel größerem Maßstab gehaltene Karte des ganzen Systems bis hinaus zum Kometenring. Pavonis war eigentlich ein Doppelsternsystem aus zwei Sonnen in einem Abstand von 10 Lichtstunden. Das war den Amarantin offenbar bekannt gewesen, denn sie hatten den Orbit der zweiten Sonne deutlich markiert. Sylveste überlegte kurz, warum er den anderen Stern bei Nacht noch nie gesehen hatte: selbst wenn er nur schwach leuchtete, müsste er immer noch sehr viel heller sein als alle anderen Sterne. Dann fiel ihm ein, dass der zweite Stern kein Licht mehr abgab. Es war ein Neutronenstern, eine ausgebrannte Sonnenleiche, die früher einmal heiß und blau gestrahlt haben musste. Jetzt war sie so dunkel, dass sie erst von der ersten interstellaren Sonde entdeckt worden war. Der Orbit des Neutronensterns war mit einer Gruppe unbekannter Schriftzeichen versehen.
Sylveste hatte keine Ahnung, was die Zeichen bedeuteten.
Damit nicht genug, fanden sich in der unteren Hälfte des Obelisken weitere Karten, die zumindest in seinen Augen andere Sonnensysteme darstellten, ohne dass er das hätte beweisen können. Wie mochten die Amarantin an die erforderlichen Informationen — über die anderen Planeten, den Neutronenstern, die anderen Sonnensysteme — gekommen sein, wenn sie keine Raumschiffe besaßen, die mit denen der Menschen zu vergleichen waren?
Die entscheidende Frage war vielleicht die nach dem Alter des Obelisken. Die Bestimmung der Kontextschicht ergab neunhundertneunzigtausend Jahre, damit wäre er etwa tausend Jahre vor dem Ereignis vergraben worden — aber zur Bestätigung seiner Theorie brauchte Sylveste sehr viel genauere Angaben. Bei ihrem letzten Besuch hatte er Pascale gebeten, den Fund mit dem Trapped Electron-Verfahren untersuchen zu lassen. Nun hoffte er, dass sie ihm das Ergebnis mitbrachte.
»Sie macht sich nützlich«, sagte er. Calvin streifte ihn nur mit höhnischem Blick. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Vielleicht hast du Recht. Trotzdem könnte ich dir sagen, was ich erfahren habe.«
Jeder Aufschub war zwecklos. »Nun?«
»Ihr Familienname ist nicht Dubois.« Calvin lächelte. Er kostete den Moment weidlich aus. »Sie heißt Girardieu. Sie ist seine Tochter. Und dich, mein lieber Junge, hat man hereingelegt.«
Sie verließen das Schieber und Weber und traten in die schwüle simulierte Planetennacht des Karussells hinaus. Herrenlose Kapuzineräffchen sprangen zu beiden Seiten der Promenade von den Bäumen, um mit geschickten Greifhänden ein paar Passantentaschen auszuräumen. Gleich hinter der nächsten Biegung dröhnten Burundi-Trommeln. Aus den dicken Wolken, die von der Decke hingen, zuckten schlangenförmige Neonblitze. Khouri hatte gehört, dass es manchmal sogar regnete, aber diese Seite meteorologischer Detailtreue war ihr bisher erspart geblieben.
»Wir haben im Zentrum ein Shuttle angedockt«, sagte Volyova. »Wir brauchen nur einen Speichenfahrstuhl zu nehmen und durch den Zoll zu gehen.«
Sie stiegen in eine ungeheizte, ratternde Fahrstuhlkabine, die nach Urin stank. Sie war leer bis auf einen behelmten Komuso-Mönch, der in Gedanken versunken auf einer Bank saß und seine Shakuhachi zwischen den Knien hielt. Khouri vermutete, dass andere Fahrgäste lieber auf die nächste Kabine in dem endlosen Paternoster zwischen dem Zentrum und dem Rand gewartet hatten, als zu ihm einzusteigen.
Neben dem Komuso stand die Mademoiselle und hatte würdevoll die Hände auf dem Rücken gefaltet. Sie trug ein bodenlanges, stahlblaues Kleid, das schwarze Haar war zu einem strengen Knoten zusammengenommen.
»Sie sind viel zu verkrampft«, sagte sie. »Volyova wird glauben, Sie hätten etwas zu verbergen.«
»Gehen Sie weg.«
Volyova sah zu ihr hinüber. »Sagten Sie etwas?«
»Nur, dass es hier kalt ist.«
Volyova brauchte verdächtig lange, um diese Aussage zu verarbeiten. »Ja. Das mag sein.«
»Sie brauchen nicht laut zu sprechen«, sagte die Mademoiselle. »Sie brauchen nicht einmal stumm zu artikulieren. Stellen Sie sich nur vor, Sie würden sagen, was ich hören soll. Das Implantat entdeckt die Spuren der Impulse, die in Ihrem Sprachzentrum generiert werden. Los. Versuchen Sie es.«
»Gehen Sie weg«, sagte Khouri noch einmal oder stellte sich vielmehr vor, sie würde es sagen. »Verschwinden Sie schleunigst aus meinem Kopf. Das stand nicht im Vertrag.«
»Meine Liebe«, sagte die Mademoiselle, »es gibt doch gar keinen Vertrag, nur eine — wie soll ich sagen? Eine Vereinbarung auf Treu und Glauben?« Sie sah Khouri fest an, als warte sie auf eine Reaktion. Khouri starrte nur hasserfüllt zurück. »Na schön«, sagte die Mademoiselle. »Aber Sie sehen mich bald wieder, das verspreche ich Ihnen.«
Damit verschwand sie.
»Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Khouri.
»Wie bitte?«, fragte Volyova.
»Ich sagte, ich kann es kaum erwarten«, antwortete Khouri. »Diesen verdammten Fahrstuhl zu verlassen, meine ich.«
Wenig später hatten sie das Zentrum erreicht, passierten den Zoll und bestiegen das Shuttle, ein Schiff für Flüge außerhalb der Atmosphäre, bestehend aus einer Kugel mit vier am Äquator angebrachten Triebwerken. Das Shuttle hieß Abschiedsmelancholie — Ultras gaben ihren Schiffen mit Vorliebe ironische Namen. Das Innere erinnerte mit seinen rippenartigen Verstrebungen an den Bauch eines Wals. Volyova wies Khouri durch eine Reihe von Schotts und schlundähnlichen Kriechgängen den Weg zur Brücke. Dort gab es einige Schalensessel und eine von einem zarten entoptischen Gitter umgebene Instrumentenkonsole mit Unmengen von unverständlichen flugelektronischen Angaben. Volyova drückte auf eine der visuellen Anzeigen, und aus einer schwarzen Nische an der Seite der Konsole schob sich ein kleines Tablett mit einer altmodischen Tastatur. Als Volyova die Finger über die Tasten tanzen ließ, fegte eine Welle von Veränderungen über die Datenanzeigen hinweg.