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»Das sieht sicher sehr hübsch aus«, sagte Khouri und verdarb damit die feierliche Stimmung. »Aber ich verstehe noch immer nicht, wo die Gespenster ins Spiel kommen.«

Volyova lächelte. »Die hätte ich fast vergessen. Und das wäre schade gewesen.«

Dann sprach sie so leise in ihr Armband, dass Khouri nicht hören konnte, was sie dem Schiff befahl.

Die Stimmen toter Seelen erfüllten den Raum.

»Die Gespenster«, sagte Volyova.

Sylveste schwebte körperlos über der vergrabenen Stadt.

Ringsum ragten, über und über behauen mit dem Äquivalent von zehntausend gedruckten Büchern in Amarantin-Schrift, die Wände auf wie ein Käfig. Obwohl die Schriftzeichen nur wenige Millimeter hoch waren und er Hunderte von Metern von der Wand entfernt war, brauchte er sich nur auf einen Bereich zu konzentrieren, und schon wurden die Worte gestochen scharf. Übersetzungs-Algorithmen verarbeiteten den Text zu einer dem Canasischen ähnlichen Sprache und Sylvestes Gehirn tat mit halb intuitiven Denkprozessen das Gleiche. In der Mehrzahl der Fälle kamen beide Übersetzer zu übereinstimmenden Lösungen, doch gelegentlich entging den Programmen eine vielleicht wichtige Feinheit, die nur aus dem Kontext zu erschließen war.

Währenddessen saß er in Cuvier in seinem Gefängnis und kritzelte Seite um Seite eines Schreibblocks mit Notizen voll. Zurzeit zog er Papier und Stift allen modernen Aufzeichnungsgeräten vor, wann immer das möglich war. Digitale Medien konnten zu leicht von seinen Feinden nachträglich manipuliert werden. Wenn seine Notizen eingestampft würden, wären sie wenigstens für immer verloren und könnten nicht in ideologisch verzerrter Form wiederkehren, um ihn zu verfolgen.

Er übersetzte ein bestimmtes Teilstück des Textes zu Ende, und als er zu den gefalteten Flügeln gelangte, einer Glyphe, die das Ende eines Abschnitts anzeigte, zog er sich von dem Schwindel erregenden Abgrund aus Mauern und Texten zurück.

Er schob ein Löschblatt in den Block und klappte ihn zu. Dann tastete er nach einem Regal, schob den Block hinein und zog einen anderen heraus. Auch hier war ein Löschblatt eingelegt. Er öffnete ihn auf der entsprechenden Seite und fuhr mit den Fingern bis dahin, wo er keine Tinte mehr spürte. Dann legte er den Block genau parallel zur Schreibtischkante und setzte den Stift am Beginn der ersten neuen Zeile an.

»Du arbeitest zu viel«, sagte Pascale.

Er hatte sie nicht eintreten hören; nun musste er sich erst vergegenwärtigen, dass sie an seiner Seite stand — oder vielleicht auch saß.

»Ich glaube, ich komme allmählich voran«, sagte Sylveste.

»Rennst du immer noch mit dem Kopf gegen diese alten Inschriften an?«

»Einer von uns zeigt die ersten Sprünge.« Er verschob seinen körperlosen Blickwinkel, so dass er nicht mehr die Wand sah, sondern das Zentrum der ummauerten Stadt. »Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass es so lange dauern würde.«

»Ich auch nicht.«

Er wusste, was sie meinte. Achtzehn Monate waren vergangen, seit ihm Nils Girardieu die vergrabene Stadt gezeigt hatte; ein Jahr, seit sie beschlossen hatten zu heiraten, die Hochzeit aber aufzuschieben, bis er mit seiner Übersetzungsarbeit größere Fortschritte gemacht hätte. Jetzt war es so weit — und prompt bekam er es mit der Angst zu tun. Sie wusste so gut wie er, dass er jetzt keine Ausrede mehr hatte.

Warum war es überhaupt so ein Problem? Vielleicht nur deshalb, weil er es dazu erklärte?

»Du runzelst schon wieder die Stirn«, sagte Pascale. »Hast du Schwierigkeiten mit den Inschriften?«

»Nein«, sagte Sylveste. »Das ist vorbei.« Und so war es; es war ihm zur zweiten Natur geworden, die bimodalen Ströme der Amarantin-Schrift zu einem sinnvollen Ganzen zu verschmelzen. Er arbeitete wie ein Kartograph beim Studium einer stereografischen Projektion.

»Lass mich sehen.«

Er hörte, wie sie durch den Raum ging und sein Schreibpult anwies, einen Parallelkanal für ihr Sensorium zu öffnen. Die Konsole — Sylvestes einziger Zugang zum digitalen Modell der Stadt — war nicht lange nach jenem ersten Besuch eingerichtet worden. Die Idee kam ausnahmsweise nicht von Girardieu, sondern von Pascale. Der Erfolg der vor kurzem veröffentlichten Biografie Abstieg in die Finsternis und die bevorstehende Hochzeit gaben ihr ein Druckmittel gegen ihren Vater, und Sylveste hatte sich natürlich nicht gewehrt, als sie ihm — im wahrsten Sinne des Wortes — die Schlüssel zur Stadt überreichte.

In der Kolonie war die Hochzeit inzwischen Tagesgespräch. Was Sylveste an Klatsch darüber zu hören bekam, unterstellte ihm zumeist rein politische Motive; er habe Pascale umworben, um durch die Heirat dem Zentrum der Macht wieder näher zu kommen; die Hochzeit sei — zynisch betrachtet — nur Mittel zum Zweck, und der Zweck sei eine Expedition der Kolonie zum Cerberus/Hades-System. Vielleicht war ihm dieser Verdacht ganz kurz auch selbst gekommen; vielleicht hatte er sich gefragt, ob ihn nicht sein Unterbewusstsein um dieses Zieles willen dazu gebracht hatte, sich in Pascale zu verlieben. Vielleicht enthielt der Gedanke tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Doch das konnte er in seiner derzeitigen Situation zum Glück nicht feststellen. Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, sie zu lieben — was für ihn das Gleiche war, wie sie wirklich zu lieben —, aber er war auch nicht blind für die Vorteile einer Ehe mit ihr. Er hatte auch wieder angefangen zu veröffentlichen; bescheidene Artikel nur, aufbauend auf Übersetzungen kleiner Teile der Amarantin-Texte. Pascale zeichnete als Mitautorin. Girardieu persönlich wurde als Mitarbeiter erwähnt. Vor fünfzehn Jahren wäre Sylveste darüber entsetzt gewesen; jetzt war er nicht einmal mehr über sich selbst empört. Für ihn zählte nur, dass die Stadt dem Verständnis des Ereignisses einen Schritt näher gekommen war.

»Hier bin ich«, sagte Pascale. Ihre Stimme klang lauter, aber sie war wie Sylveste nur eine körperlose Präsenz. »Haben wir den gleichen Blickwinkel?«

»Was siehst du?«

»Den Turm; den Tempel — wie du es nennen willst.«

»Gut so.«

Der Tempel befand sich im geometrischen Zentrum der Stadt, die im Maßstab 1:4 verkleinert war, und sah aus wie das obere Drittel eines Eies. Die Spitze verjüngte sich zu einem spitzen Türmchen, das — immer schmaler werdend — bis zum Dach der Stadthöhle reichte. Die Gebäude ringsum wirkten zusammengeschweißt wie Webervögelnester — vielleicht ein unterschwelliger Durchbruch entwicklungsgeschichtlich bedingter Zwänge — und kauerten wie misstönende Gebete vor dem riesigen Turm, der den Tempel überragte.

»Stört dich irgendetwas daran?«

Er beneidete Pascale. Sie hatte die Stadt Dutzende von Malen in Wirklichkeit besucht. Sie hatte sogar zu Fuß den Turm bestiegen, durch einen schlundartigen Wendelgang, der sich bis zur Spitze empor schraubte.

»Die Figur auf der Spitze? Sie passt nicht hierher.«

Im Verhältnis zur übrigen Stadt wirkte die Figurine klein und zierlich, aber sie war immerhin zehn bis fünfzehn Meter hoch und damit den ägyptischen Statuen im Tal der Könige zu vergleichen. Die unterirdische Stadt war, das ließ sich aus den Erfahrungen mit anderen Ausgrabungen ableiten, maßstabsgetreu auf etwa ein Viertel der üblichen Dimensionen verkleinert worden. In voller Größe wäre die Figur auf der Turmspitze also mindestens vierzig Meter hoch gewesen. Aber diese Stadt hatte niemals an der Oberfläche gestanden. Selbst wenn sie mit viel Glück die Feuerstürme des Ereignisses überdauert hätte, wäre sie in den folgenden neunhundertneunzigtausend Jahren durch Verwitterung, Vereisung, Meteoriteneinschläge und tektonische Verschiebungen mit Sicherheit zerstört worden.

»Passt nicht hierher?«

»Sie stellt keinen Amarantin dar — jedenfalls keinen Amarantin, wie ich sie kenne.«

»Also irgendeine Gottheit?«