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»Mag sein. Aber dann verstehe ich nicht, warum man ihr Flügel gegeben hat.«

»Aha. Das hältst du also für problematisch?«

»Sieh dir die Stadtmauer an, wenn du mir nicht glaubst.«

»Am besten führst du mich hin, Dan.«

Die beiden körperlosen Präsenzen wandten sich vom Turm ab und stürzten sich in Schwindel erregende Tiefen.

Volyova beobachtete, wie die Stimmen auf Khouri wirkten. Irgendwo musste die Selbstsicherheit dieser Frau doch einen Riss haben, der Angst und Zweifel durchließ — vielleicht dachte sie, Volyova habe einen Weg gefunden, Phantom-Emanationen einzufangen, und glaubte tatsächlich, Gespenster zu hören.

Die Geisterstimmen klangen dumpf und klagend; langgezogene Laute, so leise, dass sie eher zu spüren als zu hören waren. Sie heulten wie der Wind in der unheimlichsten Winternacht, die man sich vorstellen konnte, wie ein Wind, der tausend Meilen weit durch Höhlen geweht war. Aber dies war eindeutig keine Naturerscheinung, es war nicht das Geräusch des Teilchenwindes, der das Schiff umströmte; es waren auch nicht die Schwankungen im empfindlichen Gleichgewicht der Triebwerksreaktionen. Aus diesem Geistergeheul klagten Seelen, riefen Stimmen durch die Nacht. Obwohl man kein einziges Wort verstehen konnte, waren die Strukturen einer menschlichen Sprache unverkennbar.

»Was halten Sie davon?«, fragte Volyova.

»Es sind Stimmen, nicht wahr? Menschliche Stimmen. Aber sie klingen so… erschöpft; so traurig.« Khouri lauschte angestrengt. »Hin und wieder glaube ich, ein Wort herauszuhören.«

»Sie wissen natürlich, was es ist.« Volyova dämpfte den Ton, bis der Gespensterchor nur noch leise und unendlich schmerzvoll im Hintergrund zu hören war. »Raumschiffbesatzungen. Menschen wie Sie und ich, die ebenfalls in Schiffen durch das All fliegen und über das Nichts hinweg miteinander sprechen.«

»Aber warum…« Khouri zögerte. »Oh, warten Sie. Jetzt verstehe ich. Sie fliegen schneller als wir, nicht wahr? Viel schneller. Ihre Stimmen klingen langsamer, weil sie auch tatsächlich langsamer sind. Auf Schiffen, die knapp unter Lichtgeschwindigkeit fliegen, gehen die Uhren langsamer.«

Volyova nickte. Sie war ein klein wenig enttäuscht, dass Khouri so schnell begriffen hatte. »Zeitdilatation. Einige von den Schiffen bewegen sich natürlich auf uns zu, daher wird die Wirkung dank der Blauverschiebung durch den Dopplereffekt etwas reduziert, aber normalerweise ist der Dilatationsfaktor stärker…« Sie brach mit einem Achselzucken ab, als sie sah, dass Khouri ihrem Vortrag über die Feinheiten der relativistischen Kommunikation noch nicht folgen konnte. »Normalerweise gleicht die Unendlichkeit das alles natürlich automatisch aus; sie beseitigt die Verzerrungen durch Dopplerverschiebung und Dilatation und übersetzt das Ergebnis in verständliche Sprache.«

»Kann ich das einmal hören?«

»Nein«, sagte Volyova. »Es lohnt sich nicht. Am Ende kommt immer das Gleiche heraus. Belanglosigkeiten, technische Fachsimpeleien, die bekannten Werbesprüche der Händler. Und das ist noch das interessantere Ende des Spektrums. Am anderen stehen paranoider Klatsch oder irgendwelche armen Teufel mit einem Hirnschaden, die ihr Leid in die Nacht hinaus schreien. Meistens begrüßen sich nur zwei Schiffe, wenn sie aneinander vorbeifliegen, und tauschen nichtssagende Freundlichkeiten aus. Bei der Kommunikation zwischen Lichtschiffen geht die Zeitverzögerung meist in die Monate, deshalb sind sinnvolle Gespräche so gut wie unmöglich. Obendrein besteht der Chor etwa zur Hälfte aus Aufzeichnungen, weil die Besatzungen normalerweise im Kälteschlaf liegen.«

»Mit anderen Worten, wir hören nur ganz gewöhnliches Geschwätz.«

»Ja. Es verfolgt uns, wohin wir auch gehen.«

Volyova ließ sich in ihren Sitz zurücksinken und befahl der Verstärkeranlage, die klagenden, zeitgedehnten Stimmen noch lauter zu stellen. An sich hätte man erwarten können, dass diese Signale menschlicher Gegenwart die Sterne weniger kalt und fern erscheinen ließen, aber seltsamerweise bewirkten sie genau das Gegenteil, ähnlich wie Gespenstergeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählte, die Nacht außerhalb des Flammenscheins noch dunkler machten. Für einen Moment — einen Moment, den Volyova wie immer genoss, ohne sich um Khouris Gefühle zu kümmern — konnte man sich vorstellen, in den interstellaren Weiten hinter den Glaswänden hausten tatsächlich Gespenster.

»Merkst du etwas?«, fragte Sylveste.

Die Stadtmauer bestand aus gezackten Granitblöcken und wurde an fünf Stellen von Pförtnerhäusern unterbrochen, über denen Skulpturen von Amarantin-Köpfen angebracht waren. Der Stil war nicht ganz realistisch und erinnerte an die Kunst von Yucatan. Außen lief ein Bilderfries aus Keramikkacheln um die Mauer, auf dem Amarantin-Funktionäre bei der Ausübung vielfältiger protokollarischer Verpflichtungen dargestellt waren.

Pascale zögerte mit der Antwort. Sie betrachtete die verschiedenen Figuren auf dem Fries.

Einige hielten landwirtschaftliche Geräte in den Händen, die fast aus der Geschichte der Menschheit hätten stammen können, andere hatten Waffen — Spieße, Bogen und eine Art Muskete, aber sie benahmen sich nicht wie Soldaten im Kampf, sondern wirkten so steif und förmlich wie ägyptische Statuen. Es gab auch Chirurgen, Steinhauer und Astronomen — die Amarantin hatten Spiegel- und Refraktorteleskope erfunden —, Kartographen, Glasbläser, Drachenbauer und Künstler. Über jedem Repräsentanten gab eine bimodale Kette von goldenen und kobaltblauen Schriftzeichen den Namen des Schwarms an, der den jeweiligen Beruf ausübte.

»Keine einzige Gestalt hat Flügel«, bemerkte Pascale.

»Nein«, bestätigte Sylveste. »Aus den Flügeln sind irgendwann Arme geworden.«

»Aber was stört dich an einer Götterstatue mit Flügeln? Die Menschen hatten niemals Flügel, aber das hat sie nicht gehindert, ihre Engel damit auszustatten. Müsste das einer Gattung, die tatsächlich einmal Flügel hatte, nicht noch näher liegen?«

»Du vergisst dabei nur den Schöpfungsmythos.«

Erst in den letzten Jahren war es den Archäologen gelungen, den Ur-Mythos aus Dutzenden von späteren, ausgeschmückten Versionen herauszulösen. Nach diesem Mythos hatten sich die Amarantin den Himmel einst mit anderen vogelartigen Geschöpfen geteilt, die noch auf Resurgam existierten, als sie die Herrschaft übernahmen. Aber die Schwärme aus jener Frühzeit waren die letzten gewesen, die frei fliegen konnten. Eines Tages schlossen sie ein Abkommen mit einem Gott namens ›Vogelmacher‹ und tauschten die Fähigkeit zu fliegen gegen die Gabe der Empfindungsfähigkeit ein. Noch am gleichen Tag erhoben sie ihre Schwingen und ein alles verzehrendes Feuer fiel vom Himmel und verbrannte sie zu Asche. Damit war ihnen das Reich der Lüfte für immer verschlossen.

Zur Erinnerung an das Abkommen gab ihnen der Vogelmacher nutzlose, mit Krallen bewehrte Flügelstummel — sie ließen sie nie vergessen, was sie aufgegeben hatten, befähigten sie aber, ihre Geschichte aufzuschreiben. Auch in ihrem Geist brannte von nun an ein Feuer, aber das war die immer währende Flamme des Seins. Sie würde niemals erlöschen, erklärte ihnen der Vogelmacher — so lange sie nicht seinem Willen trotzten und versuchten, sich abermals zum Himmel aufzuschwingen. Sollten sie das aber tun, dann, so drohte er, würde er ihnen die Seelen wieder wegnehmen, die sie am Tag der Brennenden Schwingen erhalten hatten.

Sylveste deutete den Mythos als den begreiflichen Wunsch einer Kultur, sich selbst einen Spiegel vorzuhalten. Bedeutsam daran war, wie vollständig dieser Glaube die ganze Kultur erobert hatte — im Grunde hatte er alle anderen Religionen verdrängt und sich in verschiedenen Varianten über unglaublich viele Jahrhunderte erhalten. Die Sage musste das Denken und das Verhalten der Amarantin auf unzähligen Ebenen geprägt haben.

»Ich verstehe«, sagte Pascale. »Als Gattung war es ihnen unerträglich, nicht fliegen zu können, deshalb ersannen sie die Vogelmacher-Geschichte, um sich den Vögeln, die noch fliegen konnten, überlegen zu fühlen.«