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»Richtig. Und solange der Glaube daran lebendig war, hatte er einen unerwarteten Nebeneffekt: er hielt sie davon ab, sich jemals wieder in die Lüfte zu erheben. Die Ähnlichkeit mit der Ikarus-Sage ist nicht zu übersehen, nur war der Einfluss auf die kollektive Psyche hier viel stärker.«

»Aber wenn das stimmt, dann ist die Figur auf dem Turm…«

»Ein doppelter Stinkefinger an den Gott, an den sie bis dahin glaubten.«

»Aber was mag sie dazu bewogen haben?«, fragte Pascale. »Religionen verschwinden sang- und klanglos und werden durch andere ersetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Stadt wie diese mit allem, was dazu gehört, nur baut, um seinen alten Gott zu beleidigen.«

»Ich auch nicht. Und das bringt mich auf eine ganz andere Idee.«

»Und die lautet?«

»Ein neuer Gott hat Einzug gehalten. Ein Gott mit Flügeln.«

Volyova hielt den Zeitpunkt für gekommen, Khouri mit ihrem Arbeitsgerät vertraut zu machen. »Festhalten«, sagte sie, als sich der Fahrstuhl dem Geschützpark näherte. »Beim ersten Mal wird den meisten Leuten ziemlich unheimlich zumute.«

»Mein Gott«, sagte Khouri und drückte sich instinktiv gegen die Rückwand, als sich der Blick plötzlich weitete. Wie ein kleiner Käfer kroch der Fahrstuhl an einer Wand des riesigen Raums hinunter. »Wie kann eine solche Halle ins Innere des Schiffs passen?«

»Oh, das ist noch gar nichts. Es gibt vier weitere Säle dieser Größe. Saal zwei wird als Trainingsraum für Planeteneinsätze genutzt. Zwei stehen leer oder sind nur unzureichend belüftet; im vierten sind Shuttles und Flugzeuge für den interplanetaren Verkehr untergebracht. Diese Halle ist das einzige Depot für Weltraumgeschütze.«

»Sie meinen diese Dinger?«

»Ja.«

In der Halle standen vierzig Geschütze, doch keins davon sah aus wie das andere. Nur in der Gesamtkonstruktion zeigte sich eine gewisse Verwandtschaft. Jedes Geschütz war von einem grünlich-bronzefarbenen Metallgehäuse umgeben und so groß wie ein mittleres Raumschiff, ließ aber nicht erkennen, dass es als solches diente. Die Rümpfe hatten weder Fenster noch Luken, es gab weder Hoheitszeichen noch irgendwelche Kommunikationssysteme. Manche waren mit Verniertriebwerken ausgerüstet, aber die dienten ähnlich wie ein Schlachtschiff nur dazu, die Kanonen in Position zu bringen und auszurichten.

Denn im Grunde waren die Weltraumgeschütze nichts anderes als große Kanonen.

»Höllenklasse«, sagte Volyova. »So wurden sie von ihren Erbauern genannt. Natürlich liegt das ein paar Jahrhunderte zurück.«

Volyova sah, wie ihr neuer Waffenoffizier das nächste Geschütz, einen Koloss von gigantischen Ausmaßen, anerkennend betrachtete. Es hing senkrecht, die Längsachse parallel zur Schubachse des Schiffes ausgerichtet, vor ihnen wie ein Paradeschwert von der Zimmerdecke eines Kriegsbarons. Einer von Volyovas Vorgängern hatte alle Waffen in diesem Raum mit Gerüsten umgeben lassen, an denen verschiedene Kontroll—, Überwachungs- und Steuerungssysteme angebracht waren. Die Systeme standen auf Schienen — ein dreidimensionales Netz aus Geleisen und Weichen durchzog die Halle —, die weiter unten zusammenliefen und in einen sehr viel kleineren Raum eine Etage tiefer führten, der nur für ein Geschütz Platz bot. Von dort konnte die Weltraumwaffe durch die Hülle nach draußen ins All gebracht werden.

»Wer waren denn diese Erbauer?«, fragte Khouri.

»Das wissen wir nicht genau. Vielleicht eine der furchterregenderen Synthetikergruppen. Wir wissen nur, wo die Waffen gefunden wurden. Sie waren in einem Asteroiden um einen braunen Zwerg versteckt, der nicht einmal einen Namen hat, sondern nur eine Nummer.«

»Sie waren dabei?«

»Nein; das war lange vor meiner Zeit. Ich habe die Geschütze vom letzten Waffenmeister übernommen — und der hatte sie von seinem Vorgänger. Seither beschäftige ich mich damit. Bei einunddreißig von den vierzig ist es mir gelungen, auf die Kontrollsysteme zuzugreifen, und ich habe etwa achtzig Prozent der erforderlichen Aktivierungscodes herausgefunden. Aber getestet habe ich bisher nur siebzehn Systeme, und davon nur zwei in einer Gefechtssituation, wenn man so will.«

»Das heißt, Sie haben sie tatsächlich eingesetzt?«

»Es war nicht so, dass ich mich danach gedrängt hätte.«

Wozu sollte sie Khouri mit einer eingehenden Schilderung vergangener Gräuel belasten, dachte sie — das hatte keine Eile. Mit der Zeit würde Khouri mit den Geschützen ebenso vertraut sein wie Volyova — vielleicht sogar noch besser, denn Khouri konnte vom Leitstand aus über ihr Neural-Interface direkt mit ihnen in Kontakt treten.

»Wozu sind sie fähig?«

»Einige können mühelos ganze Planeten in Stücke reißen. Bei anderen… wage ich keine Vermutungen anzustellen. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie einen Stern ziemlich übel zurichten könnten. Wer allerdings ein Interesse daran haben sollte, solche Waffen einzusetzen…« Sie verstummte.

»Gegen wen haben Sie sie denn eingesetzt?«

»Gegen Feinde natürlich.«

Khouri sah sie sekundenlang schweigend an.

»Ich weiß nicht, ob ich entsetzt sein soll, dass solche Waffen existieren… oder erleichtert, dass zumindest wir den Finger am Abzug haben und niemand anderer.«

»Seien Sie erleichtert«, sagte Volyova. »Es ist besser so.«

Sylveste und Pascale kehrten zum Turm zurück und schwebten darüber. Die geflügelte Amarantin-Gestalt stand noch genauso da wie zuvor, doch nun schien sie mit herrischer Gleichgültigkeit über die Stadt zu blicken. Die Vorstellung, hier habe tatsächlich ein neuer Gott Einzug gehalten, war verführerisch — was sonst hätte zum Bau eines solchen Denkmals anregen können, wenn nicht die Scheu vor dem Göttlichen? Aber der Begleittext auf der Turmwand ließ sich sehr schwierig entziffern. »Hier ist ein Hinweis auf den Vogelmacher«, sagte Sylveste.

»Damit steigen die Chancen, dass der Turm etwas mit dem Mythos von den Brennenden Schwingen zu tun hatte, auch wenn der geflügelte Gott eindeutig nicht den Vogelmacher darstellt.«

»Richtig«, sagte Pascale. »Hier steht das Schriftzeichen für Feuer und daneben das für Schwingen.«

»Was siehst du noch?«

Pascale konzentrierte sich auf den Text. »Hier wird auf einen Schwarm von Abtrünnigen Bezug genommen.«

»Abtrünnig in welchem Sinne?« Er stellte sie auf die Probe, und sie wusste es, aber Pascales Deutung konnte auch als Gradmesser für die Subjektivität seiner eigenen Analyse dienen.

»Ein Schwarm, der dem Abkommen mit dem Vogelmacher nicht zustimmte oder sich hinterher nicht daran hielt.«

»Darauf war ich auch gekommen. Ich hatte nur Bedenken, ob mir nicht der eine oder andere Fehler unterlaufen war.«

»Wer sie auch waren, man nannte sie jedenfalls die Verbanntem.« Sie las weiter, kehrte immer wieder zurück, überprüfte ihre Hypothesen und revidierte ihre Interpretation, wo es nötig war. »Sieht so aus, als hätten sie ursprünglich zu dem Schwarm gehört, der mit den Bedingungen des Vogelmachers einverstanden war, um dann einige Zeit später ihre Meinung zu ändern.«

»Findest du auch den Namen des Anführers?«

Pascale begann: »Geführt wurden sie von einem Individuum namens…« Doch dann brach sie ab. »Nein, diese Zeichenfolge kann ich nicht übersetzen; jedenfalls nicht aus dem Stegreif. Was hat das alles überhaupt zu bedeuten? Glaubst du, es hat diese Verbannten wirklich gegeben?«

»Nicht auszuschließen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es waren Ungläubige, die mit der Zeit erkannten, dass der Mythos vom Vogelmacher eben nur ein Mythos war und nicht mehr. Das hätte den fundamentalistischen Schwärmen natürlich nicht besonders gefallen.«

»Und deshalb hat man sie verbannt?«

»Immer vorausgesetzt, sie haben überhaupt existiert. Aber ein Gedanke lässt mich nicht los: Was ist, wenn sie so etwas wie eine Technikersekte gewesen wären, eine Enklave von Wissenschaftlern? Amarantin, die Experimente machen und Fragen nach den Gesetzen ihrer Welt stellen wollten?«