»Wie die Alchimisten des Mittelalters?«
»Ja.« Der Vergleich sagte ihm auf Anhieb zu. »Vielleicht haben sie sogar Versuche mit Flugmaschinen gemacht wie einst Leonardo. Wenn man sich die Stimmung in dieser Amarantin-Kultur vorstellt, wäre das nicht anders gewesen, als hätten sie Gott ins Gesicht gespuckt.«
»Einverstanden. Aber nehmen wir an, es hätte sie gegeben — und sie wären verbannt worden —, was wurde dann aus ihnen? Sind sie einfach ausgestorben?«
»Ich weiß es nicht. Aber eines ist klar. Diese Verbannten spielten eine wichtige Rolle — sie waren nicht nur eine Fußnote in der langen Geschichte des Vogelmacher-Mythos. Sie tauchen an jeder Stelle des Turms auf, überall in der ganzen Stadt — und das viel häufiger als in anderen Amarantin-Funden.«
»Aber die Stadt kam erst ziemlich spät«, sagte Pascale. »Abgesehen vom Obelisken, der als Wegweiser diente, ist sie das jüngste Relikt, das wir gefunden haben. Sie entstand erst kurz vor dem Ereignis. Warum tauchen die Verbannten plötzlich wieder auf, nachdem sie so lange verschwunden waren?«
»Nun ja«, überlegte Sylveste. »Vielleicht sind sie zurückgekehrt.«
»Nach — Zehntausenden von Jahren?«
»Vielleicht.« Sylveste lächelte geheimnisvoll. »Wenn sie — nach so langer Abwesenheit — tatsächlich wiedergekommen wären, könnte man das doch zum Anlass genommen haben, gewisse Statuen zu errichten.«
»Das heißt, die Statue — meinst du, sie stellt womöglich ihren Anführer dar? Das Wesen mit dem Namen…« Pascale unternahm einen neuen Versuch, das Wort zu übersetzen. »Das ist doch das Symbol für Sonne, nicht wahr?«
»Und das andere?«
»Ich bin nicht sicher. Sieht so aus wie das Zeichen für… Diebstahl — aber wie könnte das sein?«
»Wenn du die beiden zusammenfügst, was kommt dann heraus?«
Im Geiste sah er, wie sie die Achseln zuckte, sich nicht festlegen wollte. »Einer, der die Sonne stiehlt? Ein Sonnendieb? Was soll das sein?«
Nun hob auch Sylveste die Schultern. »Das frage ich mich schon den ganzen Morgen. Das und noch etwas.«
»Nämlich?«
»Warum ich glaube, den Namen schon einmal gehört zu haben.«
Als sie den Geschützpark verließen, waren sie zu dritt. Sie stiegen in einen anderen Fahrstuhl, der sie tiefer ins Herz des Schiffes brachte.
»Gut gemacht«, lobte die Mademoiselle. »Volyova ist aufrichtig überzeugt, Sie für sich gewonnen zu haben.«
Sie war fast die ganze Zeit bei ihnen gewesen — hatte Volyovas Führung schweigend verfolgt und lediglich hin und wieder eine nur für Khouri bestimmte Bemerkung oder einen Hinweis eingeworfen. Khouri fand das zutiefst beunruhigend: sie wurde das Gefühl nicht los, dass Volyova die geflüsterten Vertraulichkeiten ebenfalls mitbekam.
»Vielleicht hat sie Recht«, antwortete Khouri automatisch in Gedanken. »Vielleicht ist sie stärker als Sie.«
Die Mademoiselle lachte höhnisch. »Haben Sie mir eigentlich zugehört?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
Wenn die Mademoiselle sprechen wollte, war sie nicht auszuschließen. Sie war so hartnäckig wie eine Melodie, die einem im Kopf herumging. Man konnte sich ihr nicht entziehen.
»Hören Sie«, sagte sie nun. »Wenn meine Gegenmaßnahmen nicht wirkten, müssten Sie Volyova von meiner Existenz erzählen. Ihre Loyalität würde sie dazu zwingen.«
»Ich war mehrmals in Versuchung.«
Die Mademoiselle warf ihr einen schiefen Blick zu. Khouri überlief ein Schauer der Genugtuung. Manchmal schien die Mademoiselle — oder vielmehr ihre zum Implantat geronnene Persönlichkeit — allwissend zu sein. Doch abgesehen von den Informationen, die ihm bei der Herstellung mitgegeben worden war, musste sich das Implantat auf das beschränken, was es mit Khouris Sinnen aufnehmen konnte. Möglicherweise konnte es sich auch dann in Datennetzwerke einloggen, wenn Khouri selbst nicht angeschlossen war, aber das war eher unwahrscheinlich. Das Risiko, von denselben Systemen entdeckt zu werden, wäre zu groß gewesen. Und obwohl es Khouris Gedanken hören konnte, wenn Khouri damit kommunizierte, konnte es nicht in ihr Bewusstsein eindringen, sondern registrierte nur oberflächliche biochemische Signale in seiner unmittelbaren neuralen Umgebung. Es musste also, was die Wirksamkeit seiner Gegenmaßnahmen anging, durchaus gewisse Zweifel haben.
»Volyova würde Sie töten. Sie hat auch ihren letzten Waffenoffizier getötet, falls Sie das noch nicht selbst herausgefunden haben sollten.«
»Vielleicht hatte sie einen triftigen Grund dafür.«
»Sie wissen gar nichts über sie — oder die anderen. Ich übrigens auch nicht. Wir haben noch nicht einmal den Captain kennen gelernt.«
Das war nicht zu bestreiten. Captain Brannigans Name war Sajaki oder den anderen in Khouris Gegenwart ein oder zwei Mal versehentlich entschlüpft, aber im Allgemeinen erwähnten sie ihren Anführer kaum. Sie waren sicher keine Ultras im herkömmlichen Sinn, obwohl sie diese Fassade so sorgfältig aufrechterhielten, dass nicht einmal die Mademoiselle sie durchschaut hatte. Sie trieben die Fiktion so weit, dass sie pro forma sogar Handel trieben wie alle anderen Ultra-Besatzungen.
Aber was befand sich hinter der Fassade?
Waffenoffizier, hatte Volyova gesagt. Und jetzt hatte Khouri einen Teil der Waffen gesehen, die im Schiffsinnern lagerten. Man munkelte zwar, dass viele Handelsschiffe heimlich Waffen mitführten, um für katastrophale Verschlechterungen der Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer gewappnet zu sein oder in offener Piraterie andere Schiffe zu überfallen. Aber diese Geschütze waren für kleinere Auseinandersetzungen viel zu gewaltig, außerdem hatte das Schiff für solche Fälle sicher zusätzlich ein ganzes Arsenal an konventionellen Waffen an Bord. Wozu also ein solcher Geschützpark? Sajaki musste weitreichende Pläne haben, dachte Khouri, und das war beunruhigend — noch beunruhigender war allerdings die Vorstellung, dass es womöglich gar keinen Plan gab; dass Sajaki die Weltraumgeschütze nur so lange mit sich herumschleppte, bis sich ein Vorwand fand, sie einzusetzen. Wie ein hochgerüsteter Schläger, der auf der Suche nach einer Rauferei durch die Straßen schlenderte.
Im Lauf der vergangenen Wochen hatte Khouri eine ganze Reihe von Theorien aufgestellt und wieder verworfen, ohne eine Erklärung zu finden, die sie auch nur annähernd überzeugt hätte. Natürlich war es nicht die militaristische Atmosphäre auf dem Schiff, die ihr Kopfzerbrechen machte. Sie war für den Krieg geboren und empfand ihn als natürlichen Zustand. Er hatte nichts Fremdes für sie, obwohl sie nicht ausschloss, dass es auch noch andere, angenehmere Existenzformen gab. Allerdings musste sie zugeben, dass die Kriege, die sie auf Sky’s Edge erlebt hatte, mit Szenarien, in denen diese Weltraumgeschütze zum Einsatz kommen mochten, kaum zu vergleichen waren. Sky’s Edge hatte zwar die Verbindung zum interstellaren Handelsnetz aufrechterhalten, doch technisch gesehen lagen die Kontrahenten bei den Kämpfen auf dem Planeten durchschnittlich um Jahrhunderte hinter den Ultras zurück, die manchmal ihre Schiffe in der Umlaufbahn parkten. Eine Schlacht konnte allein dadurch gewonnen werden, dass eine Seite eine Ultra-Waffe in die Hand bekam… aber solche Waffen waren immer Mangelware gewesen und manchmal zu kostspielig, um sie auch tatsächlich zu gebrauchen. Selbst Atomwaffen waren in der Geschichte der Kolonie nur wenige Male und zu Khouris Lebzeiten gar nicht zum Einsatz gekommen. Sie hatte hässliche Szenen erlebt — die sie immer noch verfolgten —, aber sie hatte noch nie eine Waffe gesehen, die imstande war, auf einen Schlag ein ganzes Volk auszurotten. Und Volyovas Weltraumgeschütze konnten noch schlimmere Katastrophen auslösen.