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»Nicht gerade mit Begeisterung, fürchte ich.«

Girardieu hatte sich in Schale geworfen. Er trug einen gestärkten Stadtanzug und hatte für die Kameradrohnen, die ihn umschwirrten, ein wenig Rouge aufgelegt. Nun nahm er Sylveste am Arm und zog ihn von der Balustrade weg.

»Wie lange sind wir nun schon Freunde, Dan?«

»Ich würde nicht gerade von Freundschaft reden; eher von einer Symbiose zweier Parasiten.«

»Nun komm schon«, mahnte Girardieu enttäuscht. »Habe ich dir das Leben in den letzten zwanzig Jahren mehr erschwert als unbedingt nötig? Glaubst du, es hätte mir Spaß gemacht, dich einzusperren?«

»Sagen wir, du hast dabei einen beachtlichen Eifer an den Tag gelegt.«

»Ich habe nur in deinem Interesse gehandelt.« Sie verließen die Galerie durch einen der niedrigen Tunnel, die sich durch die schwarze Schale um die Stadt zogen. Der weiche Boden schluckte das Geräusch ihrer Schritte. »Außerdem«, fuhr Girardieu fort, »war die Meute damals im Fressrausch, Dan, auch wenn das vielleicht nicht auf den ersten Blick zu erkennen war. Hätte ich dich nicht in Gewahrsam genommen, dann hätte früher oder später irgendeine Gruppe ihre Wut an dir ausgelassen.«

Sylveste hörte schweigend zu. Was Girardieu sagte, entsprach theoretisch in großen Teilen der Wahrheit, aber das hieß noch lange nicht, dass er auch seine Motive zu jener Zeit wahrheitsgetreu schilderte.

»Die politische Situation war damals sehr viel einfacher. Es gab zum einen den Ärger mit dem Wahren Weg noch nicht.« Sie hatten einen Fahrstuhl erreicht und stiegen ein. Die Kabine war nagelneu und von geradezu steriler Sauberkeit. An der Wand hingen Drucke, verschiedene Ansichten von Resurgam vor und nach den Eingriffen durch die Fluter. Ein Bild zeigte sogar Mantell. Die Mesa, der Tafelberg, in dem die Forschungsstation untergebracht war, verschwand hier unter dichtem Laubwerk, von oben stürzte ein Wasserfall herab, darüber spannte sich ein blauer Himmel mit vereinzelten Wolken. In Cuvier beschäftigte sich ein ganzer Industriezweig von Aquarellisten bis hin zu spezialisierten Sensorium-Designern mit der Entwicklung von Bildern und Simulationen des künftigen Resurgam.

»Und zum zweiten«, sagte Girardieu, »kriechen im Moment radikale Naturwissenschaftler aus allen Löchern. Erst letzte Woche wurde ein Vertreter des Wahren Weges in Mantell erschossen, und zwar nicht von einem unserer Agenten, das kann ich dir versichern.«

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, um sie in die Stadt hinunter zu bringen.

»Was willst du damit sagen?«

»Dass wir neben den Fanatikern auf beiden Seiten allmählich wie Gemäßigte aussehen. Deprimierende Vorstellung, nicht wahr?«

»Du meinst, die Radikalen hätten uns an allen Fronten überholt?«

»So könnte man sagen.«

Als sie die schwarze, mit Schriftzeichen bedeckte Stadtmauer verließen, platzten sie mitten in eine Gruppe von Medienvertretern, die letzte Vorbereitungen für das große Ereignis trafen. Die Reporter hatten bräunliche Kamerabrillen aufgesetzt und programmierten ihre Drohnen, die ringsum in der Luft hingen wie graubraune Luftballons.

Einer von Janequins gentechnisch entwickelten Pfauen lief pickend um die Gruppe herum und zog raschelnd seinen Schweif hinter sich her. Zwei schwarz uniformierte Sicherheitsbeamte mit goldenen Fluter-Abzeichen auf den Schulterklappen traten vor. Scharen von entoptischen Figuren umschwebten sie mit drohenden Mienen. Dahinter warteten Servomaten. Sylveste und Girardieu wurden einer gründlichen Identitätskontrolle unterzogen, dann winkte man sie zu einer kleinen Hütte, die gleich neben einigen nestartig zusammengeklebten Amarantin-Behausungen aufgestellt worden war.

Die Hütte war leer bis auf einen Tisch und zwei einfache Stühle. Auf dem Tisch standen eine Flasche Amerikano-Rotwein und zwei Weingläser mit eingravierten Landschaftsszenen.

»Setz dich«, sagte Girardieu gönnerhaft. Er ging breitbeinig um den Tisch herum und goss in jedes Glas einen Schluck Wein. »Warum bist du eigentlich so verdammt nervös? Es ist doch nicht deine erste Hochzeit.«

»Eigentlich schon die vierte.«

»Jedes Mal nach Stoner-Ritus?«

Sylveste nickte. Er dachte an seine ersten beiden Hochzeiten: Feiern in kleinem Rahmen, Frauen aus den unteren Schichten, deren Gesichter er im Rückblick kaum noch auseinanderhalten konnte. Beide waren förmlich verwelkt im grellen Scheinwerferlicht, das ständig auf seine berühmte Familie gerichtet war. Dagegen war die Hochzeit mit Alicia — seiner letzten Frau — von Anfang an als Medienereignis konzipiert worden. Man hatte sie benutzt, um die Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Resurgam-Expedition zu lenken und dem Unternehmen eine letzte, dringend benötigte Finanzspritze zu verschaffen. Dass sie sich geliebt hatten, war dabei fast nebensächlich gewesen, ein erfreulicher Nachtrag zu einer längst getroffenen Vereinbarung.

»Du schleppst inzwischen jede Menge Erinnerungen mit dir herum«, bemerkte Girardieu. »Wünschst du dir nicht jedes Mal wieder, die Vergangenheit abschütteln zu können?«

»Du findest die Zeremonie ungewöhnlich.«

»Mag sein.« Girardieu wischte sich den Rotwein von den Lippen. »Ich war in der Stoner-Kultur nie richtig verwurzelt.«

»Du bist mit uns von Yellowstone gekommen.«

»Schon, aber ich wurde nicht dort geboren. Meine Familie stammt von Grand Teton. Ich kam erst sieben Jahre vor dem Aufbruch der Resurgam-Expedition nach Yellowstone. Das reichte nicht aus, um die Stoner-Kultur wirklich zu verinnerlichen. Meine Tochter dagegen… Pascale hat nie etwas anderes als die Stoner-Gesellschaft kennen gelernt. Zumindest in der Form, wie wir sie mitgebracht haben.« Er senkte die Stimme. »Du hast das Fläschchen doch sicher bei dir. Kann ich es sehen?«

»Den Wunsch kann ich dir kaum abschlagen.«

Sylveste griff in die Tasche, holte den kleinen Glaszylinder heraus, den er schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, und reichte ihn Girardieu. Der befingerte ihn nervös, schwenkte ihn hin und her und beobachtete die Blasen, die darin herumschwammen wie in einem alkoholischen Getränk. In der Mitte schwebte ein dunkles, fasriges Gebilde mit langen Fäden.

Endlich stellte Girardieu das Fläschchen mit leisem Klirren auf die Tischplatte und betrachtete es mit kaum verhohlenem Abscheu.

»Hat es wehgetan?«

»Natürlich nicht. Wir sind schließlich keine Sadisten.« Sylveste lächelte voller Schadenfreude über Girardieus Unbehagen. »Wäre es dir vielleicht lieber, wie würden Kamele austauschen?«

»Steck es wieder ein.«

Sylveste ließ das Fläschchen in seiner Tasche verschwinden. »Wer ist hier nervös, Nils?«

Girardieu goss sich noch einen Schluck Wein ein. »Entschuldige. Die Sicherheitsleute stehen unter Strom. Ich weiß nicht, was sie so verrückt macht, aber es färbt vermutlich auf mich ab.«

»Mir ist nichts aufgefallen.«

»Natürlich nicht.« Girardieu zuckte die Achseln, eine Bewegung wie bei einem Blasebalg, die irgendwo unterhalb des Bauchs begann. »Angeblich ist alles normal, aber nach zwanzig Jahren kenne ich die Leute doch besser, als sie glauben.«

»An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen. Deine Polizei ist sehr tüchtig.«

Girardieu schüttelte kurz den Kopf, als habe er in eine saure Zitrone gebissen. »Ich erwarte nicht, dass wir jemals alles ausräumen können, was zwischen uns steht, Dan. Aber du solltest mir nicht von vornherein nur das Schlechteste unterstellen.« Er deutete mit einem Nicken zur offenen Tür hin. »Habe ich dir nicht uneingeschränkten Zutritt zu diesem Ort verschafft?«

Mit dem Erfolg, dass ein Dutzend Fragen gelöst und tausend neue aufgeworfen wurden. »Nils…«, begann Sylveste. »Wie steht es eigentlich um die finanzielle Situation der Kolonie?«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß, dass sich vieles geändert hat, seit Remilliod vorbeigekommen ist. Projekte, die zu meiner Zeit undenkbar gewesen wären… könnte man jetzt angehen, wenn der politische Wille vorhanden wäre.«