»Was für Projekte?«, fragte Girardieu vorsichtig.
Wieder griff Sylveste in seine Jackentasche, doch diesmal holte er nicht das Fläschchen, sondern ein Blatt Papier heraus und breitete es vor Girardieu aus. Es zeigte ein Muster aus vielen Kreisen. »Erkennst du die Zeichnungen? Wir haben sie auf dem Obelisken und überall in der Stadt gefunden. Es sind Karten des Sonnensystems, angefertigt von den Amarantin.«
»Seit ich diese Stadt gesehen habe, fällt es mir seltsamerweise sehr viel leichter, dir zu glauben.«
»Gut, dann hör zu.« Sylveste zeichnete mit dem Finger den größten Kreis nach. »Das ist der Orbit des Neutronensterns Hades.«
»Hades?«
»Der Name wurde bei der ersten Erkundung des Systems vergeben. Hades wird seinerseits von einem Felsbrocken umkreist, der etwa die Größe eines Planetenmondes hat. Den hat man Cerberus genannt.« Nun strich er über eine Gruppe von Schriftzeichen neben dem Neutronenstern und seinem Planeten. »Dieses Doppelsystem hatte für die Amarantin eine besondere Bedeutung. Und ich glaube, dass es in irgendeinem Zusammenhang zum Ereignis steht.«
Girardieu schlug mit theatralischer Geste die Hände vors Gesicht, ließ sie wieder sinken und sah Sylveste an. »Du meinst das wirklich ernst, nicht wahr?«
»So ist es.« Ohne Girardieu aus den Augen zu lassen, faltete er das Blatt ordentlich zusammen und steckte es in die Tasche zurück. »Wir müssen dieses System erforschen, und wir müssen herausfinden, wodurch die Amarantin umkamen. Damit uns nicht das Gleiche passiert.«
Sajaki und Volyova kamen in Khouris Kabine und empfahlen ihr, sich warm anzuziehen. Khouri bemerkte, dass alle beide ungewöhnlich dicke Kleidung trugen — Volyova eine Fliegerjacke mit Reißverschluss, Sajaki ein aus diamantförmigen Flicken mosaikartig zusammengesetztes Thermojackett mit Stehkragen.
»Ich habe die Probe nicht bestanden, wie?«, fragte Khouri. »Und jetzt kommt der Sprung aus der Schleuse. Meine Werte in den Kampfsimulationen sind zu niedrig. Deshalb schmeißen Sie mich raus.«
»Dummes Zeug«, sagte Sajaki. Über dem Pelzkragen waren nur seine Stirn und seine Nase zu sehen. »Wenn wir Sie töten wollten, würde es uns wohl kaum noch kümmern, ob Sie sich erkälten.«
»Außerdem«, sagte Volyova, »ist Ihre Einweisung seit Wochen abgeschlossen. Sie sind eine von uns. Sie jetzt noch zu töten wäre Verrat an uns selbst.« Ihr Mützenschild war so weit heruntergezogen, dass nur Mund und Kinn zu sehen waren. Sie und Sajaki ergänzten sich aufs Schönste. Die beiden Hälften ergaben ein perfektes Pokergesicht.
»Gut zu wissen, dass Ihnen so viel an mir liegt.«
Khouri war noch nicht überzeugt — die Möglichkeit, dass die beiden eine Gemeinheit planten, stand immer noch drohend im Raum — aber sie wühlte in ihren Habseligkeiten, bis sie eine Thermojacke fand. Sie war vom Schiff hergestellt und hatte den gleichen Schnitt wie Sajakis bunter Rock, nur reichte sie ihr fast bis an die Knie.
Ein Fahrstuhl brachte sie in bisher unerforschte Regionen des Schiffes — zumindest weit weg von allem, was für Khouri bekanntes Territorium war. Mehrmals mussten sie zu Fuß Verbindungstunnel durchqueren, um die Fahrstühle zu wechseln. Volyova sagte, das sei nötig, weil große Teile des Transitsystems durch Virusschäden ausgefallen seien. Die Ausgestaltung und der technische Stand dieser Durchgangsbereiche war jedes Mal ein klein wenig anders, für Khouri ein Hinweis, dass ganze Schiffszonen seit Jahrhunderten brach lagen. Ihre Nervosität legte sich nicht, aber sie entnahm Sajakis und Volyovas Verhalten, dass ihr eher ein Initiationsritual als eine eiskalte Hinrichtung bevorstand. Die beiden wirkten wie zwei Kinder, die eine gefährliche Dummheit begehen wollten. Zumindest Volyova wirkte so. Sajaki gab sich autoritärer, wie ein Funktionär bei der Ausübung einer unerfreulichen Amtspflicht.
»Da Sie nun zu uns gehören«, sagte er, »ist es höchste Zeit, Ihnen etwas mehr über die Verhältnisse an Bord zu erzählen. Vielleicht möchten Sie auch gerne erfahren, aus welchem Grund wir nach Resurgam fliegen wollen.«
»Ich dachte, um Handel zu treiben.«
»Das war unser Vorwand, aber ich will gerne zugeben, dass der nie sehr überzeugend war. Resurgams Wirtschaft ist kaum der Rede wert — die Kolonie wurde nur zu Forschungszwecken gegründet. Man hat dort sicher nicht die Mittel, um uns viel abzukaufen. Natürlich sind unsere Informationen zwangsläufig veraltet, und wenn wir dort sind, werden wir so viele Geschäfte abwickeln wie nur möglich, aber das allein wäre kein Grund für die Reise gewesen.«
»Was dann?«
Der Fahrstuhl bremste ab. »Haben Sie den Namen Sylveste schon einmal gehört?«, fragte Sajaki.
Khouri bemühte sich, so zu tun, als sei das eine ganz normale Frage, obwohl der Name in ihrem Schädel wie eine Magnesiumfackel zündete.
»Aber gewiss doch. Jedermann auf Yellowstone kannte Sylveste. Der Mann war praktisch ein Gott. Vielleicht auch der Teufel.« Sie hielt inne. Hoffentlich erregte sie keinen Verdacht. »Aber warten Sie; von welchem Sylveste reden wir überhaupt? Vom älteren, der diese Unsterblichkeitsversuche verpfuscht hat? Oder von seinem Sohn?«
»Theoretisch«, sagte Sajaki, »von beiden.«
Der Fahrstuhl kam dröhnend zum Stehen. Als die Türen aufgingen, schlug ihnen die Luft wie ein nasses, kaltes Tuch ins Gesicht. Khouri war froh um ihre warme Jacke, obwohl sie trotzdem gleich darauf jämmerlich fror. »Nicht alle Sylvestes waren nämlich Dreckskerle«, fuhr sie fort. »Lorean, der Vater des Alten, blieb auch nach seinem Tod ein Volksheld, sogar nachdem der Alte — wie hieß er doch noch?«
»Calvin.«
»Richtig. Sogar nachdem der Alte so viele Menschen umgebracht hatte. Dann kam Calvins Sohn — der hieß wohl Dan — und versuchte auf seine Art mit der Schleierweber-Geschichte Wiedergutmachung zu leisten.« Khouri zuckte die Achseln. »Ich war damals natürlich nicht dort. Ich weiß nur, was mir die Leute erzählt haben.«
Sajaki führte sie durch düstere, grau-grün beleuchtete Korridore. Riesige, vielleicht mutierte Pförtnerratten flohen vor ihren Schritten. Die Gänge sahen aus wie die Luftröhre eines Cholerakranken — die Wände trugen einen dicken Panzer aus klebrigem, schmutzigem Eis, alles war geädert mit Rohren und Stromleitungen und bedeckt von einer Substanz, die so ekelerregend war wie menschlicher Auswurf. Schiffsschleim nannte Volyova die Masse — ein organisches Sekret, entstanden durch Störungen in biologischen Wiederaufbereitungssystemen in einem der angrenzenden Decks.
Am schlimmsten fand Khouri jedoch die Kälte.
»Sylveste spielt in dem ganzen Geschehen eine ziemlich undurchsichtige Rolle« sagte Sajaki. »Es dauert eine Weile, Ihnen das zu erklären. Aber zuerst möchte ich Sie dem Captain vorstellen.«
Sylveste ging persönlich herum, um sich zu überzeugen, dass alles Wichtige an seinem Platz war. Zufrieden löschte er das gespeicherte Bild und folgte Girardieu in den Vorraum der Hütte. Die Musik steigerte sich zu einem Höhepunkt und plätscherte dann beruhigend im Hintergrund weiter. Die Beleuchtung veränderte sich, die Stimmen verstummten.
Gemeinsam traten sie ins helle Licht. Das Dröhnen der Orgelbässe umfing sie. Ein gewundener Pfad, zur Feier des Tages mit Teppichen belegt, führte zum Tempel. Zu beiden Seiten standen Glockenbäume unter Schutzhauben aus klarem Plastik. Die zarten Baumskulpturen hatten viele reich verzweigte Äste, an denen bunte Parabolspiegelchen hingen. In unregelmäßigen Abständen klickte es, und die Bäume veränderten, offenbar von einem Millionen Jahre alten Uhrwerk im Sockel gesteuert, ihre Gestalt. Bislang hielt man sie für Elemente eines stadtweiten Telegrafensystems.
Das Orgelspiel wurde lauter, als sie den Tempel betraten. Die eiförmige Kuppel war durchwirkt mit kunstvoll gestalteten Blütenblättern aus Buntglas, die das Zerstörungswerk der Zeit und der Schwerkraft wie durch ein Wunder unversehrt überstanden hatten. Die Deckenscheinwerfer tauchten alles in ein sanftes rosarotes Licht. Die Mitte des riesigen Raumes nahm breit und ausladend wie der Stamm eines Mammutbaums das Fundament des Turmes ein, der das Gebäude überragte. Auf einer Seite der Säule waren fächerförmig zur Außenwand hin Sitzgelegenheiten für hundert Würdenträger aus Resurgams Führungsschicht aufgestellt worden; sie fanden mühelos Platz, obwohl das Gebäude auf ein Viertel der Originalgröße reduziert war. Sylveste ließ den Blick über die Reihen der Zuschauer schweifen. Etwa ein Drittel war ihm bekannt. Vielleicht ein Zehntel hatte vor dem Umsturz zu seinen Verbündeten gezählt. Die meisten trugen dicke, pelzgefütterte Mäntel. Er entdeckte Janequin, inzwischen ein ehrwürdiger Greis mit weißem Spitzbart und langem Silberhaar, das wasserfallgleich von seinem oben kahlen Schädel herabströmte. Die Ähnlichkeit mit einem Affen war noch größer geworden. Man hatte in einem Dutzend Bambuskäfigen einige seiner Pfauen in den Tempel gebracht und sie dort freigelassen. Sylveste musste zugeben, dass sie mittlerweile täuschend echt aussahen. Selbst die wippende Federkrone und die türkis schillernden Augen im Gefieder fehlten nicht. Janequin hatte sie durch vorsichtige Manipulation von Homeo-box-Genen aus Hühnern entwickelt. Viele der Zuschauer hatten die Vögel noch nie zuvor gesehen und klatschten Beifall. Janequin wurde so rot wie blutiger Schnee und wäre am liebsten in seinem Brokatmantel versunken.