»Die Fläschchen«, sagte der Ordinator.
Eine der Kopftuchfrauen aus Pascales Gefolge trat vor und schwenkte ein Fläschchen, das nach Aussehen und Größe identisch war mit dem, das Sylveste aus der Tasche zog. Der einzige Unterschied bestand in der Farbe: die Flüssigkeit in Pascales Fläschchen war rot gefärbt, bei Sylveste war sie gelblich. Auch in ihrem Behältnis schwamm ein schwarzer Materieklumpen. Ordinator Massinger nahm beide Fläschchen, hielt sie kurz hoch und stellte sie dann, gut sichtbar für die Zuschauer, nebeneinander auf den Tisch.
»Die Trauung kann beginnen«, sagte sie. Dann stellte sie die übliche Pflichtfrage, ob jemand anwesend sei, der bioethische Einwände gegen die Verbindung vorzubringen hätte.
Natürlich meldete sich niemand.
Doch in diesem bedeutungsschweren Augenblick, in dem sich die Wege gabelten, bemerkte Sylveste, wie eine verschleierte Frau im Zuschauerraum in ihre Handtasche griff und einen kleinen bernsteinfarbenen Parfumflakon mit Edelsteinverschluss öffnete.
»Daniel Sylveste«, sagte der Ordinator. »Wollen Sie diese Frau nach Resurgam-Gesetz zu ihrem Eheweib nehmen, bis die Ehe nach diesem oder einem anderen Rechtssystem wieder aufgelöst wird?«
»Ja«, sagte Sylveste.
Die gleiche Frage wurde an Pascale gerichtet.
»Ja«, sagte auch Pascale.
»Dann sollt ihr die Bindung vollziehen.«
Ordinator Massinger nahm die Hochzeitswaffe aus der Mahagonischatulle und klappte sie auf. Sie lud das rötliche Fläschchen — das Pascales Begleiterin ihr übergeben hatte — in die Kammer und klappte den Verschluss wieder zu. Eine Status-Entoptik leuchtete auf. Girardieu fasste Sylvestes Unterarm, um ihn zu stützen. Der Ordinator setzte Sylveste das Ende der konisch zulaufenden Waffe dicht über den Augen an die Schläfe. Sylveste hatte Recht gehabt, die Zeremonie war nicht schmerzhaft, aber sie war auch nicht gerade angenehm. Er spürte einen jähen Kälteschock, als würde ihm flüssiges Helium in die Hirnrinde geblasen. Die Beschwerden gingen jedoch rasch vorbei, und in wenigen Tagen würde auch der daumengroße Bluterguss verschwunden sein. Verglichen mit dem übrigen Körper hatte das Gehirn nur ein schwaches Immunsystem, und so würden Pascales Zellen — in ihrer Suppe aus Helfer-Nanos — bald eine Verbindung mit Sylvestes Gehirnzellen eingehen. Das Volumen war gering — nur ein Zehntel Prozent der gesamten Hirnmasse — aber die transplantierten Zellen waren unauslöschlich durch ihren letzten Wirt geprägt: holografisch übertragene Erinnerungen und Persönlichkeitsstrukturen durchzogen sie wie Geisterfäden.
Der Ordinator nahm das leere rote Fläschchen heraus und legte dafür das gelbe ein. Für Pascale war es die erste Hochzeit nach Stoner-Ritus, und sie konnte ihre Angst kaum verbergen. Girardieu hielt ihr die Hände. Als der Ordinator die Neuralmasse applizierte, zuckte Pascale sichtbar zusammen.
Sylveste hatte Girardieu in dem Glauben belassen, dass die Implantation unwiderruflich sei, aber das traf nicht zu. Das Neuralgewebe war mit harmlosen Radioisotopen markiert und konnte wenn nötig durch Scheidungsviren vom Organismus getrennt und zerstört werden. Sylveste hatte bisher auf diese Möglichkeit verzichtet und gedachte das auch in Zukunft zu tun, wie viele Ehen er auch noch eingehen mochte. Er trug etwas von allen seinen Frauen in sich — und sie etwas von ihm — nun würde er auch Pascale in sich tragen. In ganz schwacher Konzentration hatte Pascale eben sogar Spuren seiner früheren Frauen in sich aufgenommen.
So war es der Brauch bei den Stonern.
Der Ordinator legte die Hochzeitswaffe vorsichtig in die Schatulle zurück. »Nach Resurgam-Gesetz«, begann sie, »ist die Ehe damit rechtskräftig. Sie können…«
In diesem Augenblick traf das Parfüm Janequins Vögel.
Die Frau mit dem bernsteinfarbenen Flakon war verschwunden. Ihr leerer Platz stach förmlich ins Auge. Der würzige Herbstduft aus dem Flakon erinnerte Sylveste an zerdrückte Blätter. Ein Niesreiz überkam ihn.
Hier stimmte etwas nicht.
Ein grelles Türkisblau erfüllte den Raum, als hätten sich hundert pastellfarbene Fächer geöffnet. Doch es waren nur die Pfauenschweife mit ihren unzähligen schillernden Augen.
Die Luft färbte sich grau.
»Hinlegen!«, schrie Girardieu. Er rieb sich hektisch den Hals. Ein kleines, mit Widerhaken versehenes Ding steckte in seiner Haut. Sylveste sah wie betäubt an seiner Tunika hinab und entdeckte auch dort ein halbes Dutzend der kommaförmigen Häkchen. Sie hatten den Stoff nicht durchdrungen, aber er wagte nicht, sie anzufassen.
»Ein Anschlag!«, schrie Girardieu. Er kroch unter den Tisch und zog Sylveste und seine Tochter mit sich. Der Raum war jetzt in hellem Aufruhr, alles drängte in wilder Panik zu den Ausgängen.
»Janequins Vögel waren präpariert!« Girardieu schrie es Sylveste förmlich ins Ohr. »Mit Giftpfeilen — in den Schweifen.«
»Du bist getroffen«, sagte Pascale. Sie war wie in Trance. Ihre Stimme verriet kaum Bewegung. Über ihren Köpfen qualmte und blitzte es. Schreie waren zu hören. Aus dem Augenwinkel sah Sylveste die Frau mit dem Parfüm. Sie hielt mit beiden Händen eine tödlich schnittige Pistole mit gezähntem Lauf und beschoss die Zuschauer mit kalter Boser-Energie. Die Kameradrohnen umschwebten sie und zeichneten das Gemetzel ungerührt auf. Sylveste hatte eine solche Waffe noch nie gesehen. Sie war mit Sicherheit nicht auf Resurgam hergestellt worden. Damit blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatten die ersten Kolonisten sie von Yellowstone mitgebracht oder man hatte sie bei Remilliod gekauft, dem Händler, der nach Girardieus Putsch das System besucht hatte. Hoch über ihm zersplitterte mit scharfem Klirren Glas — amarantinisches Glas, das hunderttausend Jahre überdauert hatte — und scharfkantige Scherben in bunten Bonbonfarben regneten in den Zuschauerraum. Sylveste musste ohnmächtig zusehen, wie rubinrote Splitter gefrorenen Blitzen gleich in menschliches Fleisch fuhren. Doch die Angstschreie waren so laut, dass sie die Schmerzenslaute übertönten.
Endlich formierten sich die Reste von Girardieus Sicherheitstruppe, aber es ging entsetzlich langsam. Vier Milizsoldaten lagen mit Widerhaken im Gesicht auf dem Boden. Einer hatte die Sitzreihen erreicht und versuchte, der Schützin ihre Pistole zu entwinden. Ein anderer eröffnete mit seiner eigenen Waffe das Feuer auf Janequins Vögel und mähte sie nieder.
Girardieu begann zu stöhnen. Er verdrehte die blutunterlaufenen Augen und griff mit den Händen ziellos ins Leere.
»Wir müssen hier raus«, schrie Sylveste Pascale ins Ohr. Sie hatte den Schock des Neuraltransfers noch nicht überwunden und nahm nur undeutlich wahr, was um sie herum vorging.
»Aber mein Vater…«
»Ihm ist nicht mehr zu helfen.«
Sylveste ließ Girardieus schweren Körper auf den kalten Fußboden des Tempels sinken, achtete dabei aber sorgsam darauf, im Schutz des Tisches zu bleiben.
»Die Widerhaken sind tödlich, Pascale. Wir können nichts für ihn tun. Wenn wir hier bleiben, ereilt uns nur das gleiche Schicksal.«
Girardieu stieß ein Krächzen aus, vielleicht ein ›Geht!‹, vielleicht auch nur ein letzter Atemzug.
»Wir können ihn nicht zurücklassen!«, sagte Pascale.
»Wenn wir es nicht tun, überlassen wir seinen Mördern den Sieg.«
Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Wo sollen wir denn hin?«
Er sah sich hektisch um. Girardieus Leute hatten offenbar Schockgranaten geworfen. Jetzt schwebte der Rauch wie die Schleier einer Tänzerin in trägen, pastellfarbenen Spiralen herab und breitete sich im ganzen Raum aus. Bevor er die Sicht zu sehr behindern konnte, wurde es mit einem Schlag stockdunkel. Anscheinend hatte jemand die Lichter außerhalb des Tempels ausgeschaltet oder zerschossen.
Pascale keuchte erschrocken auf.
Sylvestes Augen schalteten fast von selbst auf Infrarotsicht.