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Nach einer Weile verfolgten die Übungen, die Volyova für sie zusammengestellt hatte, sie bis in ihre Träume, und der Ausdruck Langeweile wurde den endlosen Wiederholungen längst nicht mehr gerecht. Dennoch begrüßte sie es irgendwann, sich im Leitstand zu verlieren. Es lenkte sie vorübergehend von ihren Sorgen ab. Sobald sie sich im Kampfsitz niederließ, reduzierte sich das Sylveste-Problem auf eine kleine juckende Stelle. Sie vergaß nicht, dass sie sich in einer aussichtslosen Situation befand, aber es erschien ihr nicht mehr so entscheidend. Der Feuerleitstand nahm sie ganz gefangen und deshalb fürchtete sie ihn nicht mehr. Wenn die Trainingssitzungen vorüber waren, wurde sie wieder sie selbst, und nach einer Weile maß sie dem Leitstand so gut wie keine Bedeutung mehr bei. Sie dachte, er könnte den Erfolg ihrer Mission letztlich nicht beeinflussen.

Das änderte sich, als die Hunde nach Hause kamen.

Es waren die Bluthunde der Mademoiselle: cybernetische Agenten, die sie während einer von Khouris Trainingssitzungen auf den Leitstand losgelassen hatte. Die Hunde hatten die einzige — verzeihliche — Schwäche des Systems genützt und waren über die neurale Schnittstelle eingedrungen. Volyova hatte diese Schnittstelle zwar gegen Softwareangriffe geschützt, aber sie hatte sich offensichtlich nicht vorstellen können, dass der Angriff ausgerechnet aus dem Gehirn der Person kommen würde, die mit dem Feuerleitstand verbunden war. Die Hunde meldeten getreulich, sie hätten das Zentrum des Leitstandes erreicht, kehrten aber im Lauf der Sitzung, in der sie ausgeschickt wurden, nicht mehr zu Khouri zurück. Ein paar Stunden genügten nicht, um jede Ritze und jeden Winkel des byzantinisch verschnörkelten Datenraums auszuschnüffeln, also blieben sie mehr als einen Tag im System.

Als Khouri sich nächstes Mal an das Interface anschloss, kehrten die Hunde zur Mademoiselle zurück. Die hob die Chiffrierung auf und entschlüsselte, was sie apportiert hatten.

Als die Mademoiselle nach der Sitzung mit Khouri allein war, sagte sie: »Sie hat einen blinden Passagier. Irgendetwas hat sich im Leitstandsystem versteckt, und ich möchte wetten, dass sie davon nichts ahnt.«

Damit war Khouris Gelassenheit gegenüber dem Feuerleitstand dahin. Sie spürte, wie ihre Körpertemperatur absackte. »Weiter«, sagte sie.

»Eine Daten-Entität: das ist die beste Beschreibung, die ich finden kann.«

»Und die Hunde sind darauf gestoßen?«

»Ja, aber…« Wieder schien die Mademoiselle nach Worten zu ringen. Manchmal war diese Ratlosigkeit vielleicht sogar echt, dachte Khouri, immer dann, wenn das Implantat mit einer Situation konfrontiert wurde, die Lichtjahre von den Erwartungen der echten Mademoiselle entfernt war. »Sie haben es nicht etwa gesehen, nicht einmal einen Teil davon. Dafür ist es zu schwer fassbar, sonst hätten ja auch Volyovas eigene Schutzsysteme Alarm geschlagen. Man könnte eher sagen, sie spürten eine Leere, wo es eben noch gewesen war, den Luftzug seiner Bewegung.«

»Tun Sie mir einen Gefallen«, bat Khouri. »Machen Sie, verdammt noch mal, keine Schauergeschichte daraus.«

»Es tut mir Leid«, antwortete die Mademoiselle. »Aber ich kann nicht leugnen, dass dieses Wesen Anlass zur Beunruhigung gibt.«

»Sie sind beunruhigt? Was glauben Sie, wie ich mich fühle?« Khouri schüttelte benommen den Kopf. Die Realität war manchmal von einer erschütternden Niederträchtigkeit. »Na schön; was ist es Ihrer Meinung nach? Ein Virus wie all die anderen, die an diesem Schiff fressen?«

»Dafür ist es zu hoch entwickelt. Das Schiff ist dank Volyovas eigener Schutzvorrichtungen trotz der anderen Virusentitäten funktionsfähig geblieben, sie konnte sogar die Schmelzseuche in Schach halten. Aber dies…« In den Augen der Mademoiselle stand eine Angst, die sehr überzeugend wirkte. »Es hat die Hunde erschreckt, Khouri. Es ist ihnen so geschickt ausgewichen, wie ich es kaum je erlebt habe. Aber es hat sie nicht angegriffen, und das beunruhigt mich noch mehr.«

»Ja?«

»Weil ich daraus schließen muss, dass es den rechten Moment abwartet.«

Sylveste wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatten. Vielleicht waren es nur Minuten gewesen, vollgepackt mit adrenalingeladenen Fieberträumen von einer chaotischen Flucht, vielleicht auch Stunden oder gar ein halber Tag. Es war nicht festzustellen. Jedenfalls waren sie nicht einfach vor Erschöpfung eingeschlafen. Als Sylveste hochfuhr, wurde ihm mit einem Schlag klar, dass sie Schlafgas eingeatmet hatten, das ins Tunnelsystem gepumpt worden war. Kein Wunder, dass ihnen die Luft so frisch und wohlriechend erschienen war.

Da, ein Rascheln wie von Ratten unter dem Dach.

Er rüttelte Pascale wach; sie kam mit einem kläglichen Wimmern zu sich und weigerte sich Minuten lang, ihre Umgebung und ihre Situation zur Kenntnis zu nehmen. Sylveste studierte die Wärmesignaturen ihres Gesichts und konnte beobachten, wie seine wächserne Starre von einer ausdrucksvollen Mischung aus Reue und Angst verdrängt wurde.

»Wir müssen weiter«, sagte er. »Sie sind hinter uns her — sie haben die Tunnel vergast.«

Das Rascheln kam mit jeder Sekunde näher. Pascale schwebte immer noch irgendwo zwischen Traum und Wachen, aber sie öffnete den Mund und fragte mit einer Stimme, als spräche sie durch Watte: »Wohin?«

»Hier hinein«, sagte Sylveste, packte sie und schob sie auf die nächste ventilähnliche Tunnelöffnung zu. Als sie auf dem glatten Boden ausrutschte, half er ihr beim Aufstehen, dann drängte er sich an ihr vorbei und nahm ihre Hand. Im Tunnel war es so dunkel, dass er auch mit seinen Augen nur wenige Meter weit sehen konnte. Im Grunde war er kaum weniger blind als seine Frau.

Immerhin besser als gar nichts.

»Warte«, sagte Pascale. »Hinter uns ist Licht, Dan!«

Jetzt hörte er auch Stimmen. Hektisches, unverständliches Geschnatter. Steriles Metallklirren. Wahrscheinlich hatten schon Batterien von Chemosensoren ihre Spur aufgenommen, untersuchten Pheromonschnüffler die Luft auf die Ausdünstungen panisch verängstigter Menschen und übermittelten ihre Daten direkt an die Sensorien der Jäger.

»Schneller«, drängte Pascale. Sylveste warf einen Blick zurück, doch die neue Helligkeit war zu viel für seine Augen. Er sah nur einen zuckenden bläulichen Schein am Tunneleingang, als halte jemand eine Fackel in der Hand. Er wollte das Tempo steigern, aber der Tunnel führte steil nach oben, und sie hatten Mühe, an den glasglatten Wänden Halt zu finden; es war, als wollten sie einen Eiskanal hinaufklettern.

Keuchende Atemzüge, Metall, das gegen die Wände kratzte, bellende Kommandos.

Der Anstieg wurde zu steil. Sie hatten ständig zu kämpfen, um nur das Gleichgewicht zu halten und nicht zurückzurutschen. »Bleib hinter mir«, sagte er und wandte sich zu dem blauen Licht um.

Pascale schob sich hastig an ihm vorbei.

»Was jetzt?«

Das Licht schwankte und wurde unmerklich stärker. »Wir haben keine Wahl«, sagte Sylveste. »Wir können ihnen nicht entkommen, Pascale. Wir müssen stehen bleiben und uns stellen.«

»Das ist Selbstmord.«

»Vielleicht verschonen sie uns, wenn sie uns ins Gesicht sehen müssen.«

Eine Hoffnung, dachte er bei sich, die durch viertausend Jahre menschlicher Zivilisation als vergeblich entlarvt sein dürfte, aber was zählte das, wenn es keinen Ausweg mehr gab? Seine Frau legte ihm von hinten die Arme um den Oberkörper, drückte ihre Wange an die seine und schaute in die gleiche Richtung. Sylveste hörte ihre keuchenden Atemzüge und war überzeugt, dass sein Atem nicht viel anders klang.

Der Feind konnte ihre Angst wahrscheinlich riechen — im wahrsten Sinne des Wortes.

»Pascale«, begann Sylveste. »Ich muss dir etwas sagen.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.« Er konnte seine Atemzüge nicht mehr von den ihren unterscheiden, spürte jedes Ausatmen wie einen Schlag auf der Haut. »Ich habe es schon zu lange geheim gehalten. Vielleicht bekomme ich keine Chance mehr, es noch jemand anderem zu erzählen.«