Freilich trug auch Volyova selbst dazu bei, einen Schatten auf ihre Beziehung zu werfen, indem sie nicht aufhörte, den Captain mit bohrenden Fragen nach seinem und Sajakis Besuch bei den Musterschiebern zu bedrängen. Ihr Interesse an dieser Episode war erst in den letzten Jahren erwacht, genauer gesagt, seit ihr aufgefallen war, dass sich etwa seit damals Sajakis Persönlichkeit verändert hatte. Natürlich ging man zu den Schiebern, um Eingriffe an seinem Bewusstsein vornehmen zu lassen — aber warum sollte Sajaki einer Verschlechterung zugestimmt haben? Er war jetzt grausamer als früher; aus einem entschlossenen, aber gerechten Führer, einem geschätzten Mitglied des Triumvirats, war ein sturer Despot geworden. Volyova hatte so gut wie jedes Vertrauen zu ihm verloren. Doch anstatt etwas Licht in die Geschichte zu bringen, wehrte der Captain ihre Fragen gereizt ab, mit dem Erfolg, dass sie sich nur noch mehr verrannte.
Unter solchen Gedanken war sie nun zu ihm unterwegs. Wie sollte sie die unvermeidliche Frage nach Sylveste beantworten? Wie sollte sie diesmal vorgehen, um den Captain nach den Schiebern auszuforschen? Sie hatte die übliche Route gewählt, und die führte durch den Geschützpark.
Dort angekommen, bemerkte sie, dass eins der Geschütze — zufällig eines, das sie besonders fürchtete — offenbar bewegt worden war.
»Es hat neue Entwicklungen gegeben«, sagte die Mademoiselle. »Günstige und weniger günstige.«
Khouri war überrascht. Sie hätte nicht erwartet, überhaupt bei Bewusstsein zu sein, geschweige denn, die Mademoiselle zu hören. Sie war in einen Kälteschlaftank gestiegen, das war das Letzte, woran sie sich erinnerte. Volyova hatte auf sie niedergesehen und dabei Befehle in ihr Armband getippt. Jetzt sah und spürte sie zwar nichts, nicht einmal die Kälte, aber sie wusste, dass sie — unerklärlicherweise — immer noch im Tank lag und in gewissem Sinne auch schlief.
»Wo bin ich? In welcher Zeit?«
»Immer noch an Bord; auf halbem Wege nach Resurgam. Wir fliegen jetzt sehr schnell; weniger als ein Prozent unter Lichtgeschwindigkeit. Ich habe Ihre Neuraltemperatur ein wenig erhöht — nur so weit, dass wir miteinander sprechen können.«
»Wird das Volyova nicht auffallen?«
»Leider haben wir sehr viel dringendere Probleme als das. Erinnern Sie sich an den Geschützpark und an den blinden Passagier, den ich im System des Feuerleitstands entdeckt hatte?« Die Mademoiselle wartete keine Antwort ab. »Die Botschaft der Bluthunde war nicht leicht zu entschlüsseln. Doch in den folgenden drei Jahren… gelang es mir, die Zeichen klarer zu deuten.«
Khouri stellte sich vor, wie die Mademoiselle ihren Hunden die Bäuche aufschnitt und die hervorquellenden Eingeweide studierte.
»Der blinde Passagier existiert also wirklich?«
»O ja. Und er ist ein Feind, aber dazu kommen wir gleich.«
»Irgendein Hinweis, um was für ein Wesen es sich handelt?«
»Nein«, sagte die Mademoiselle, aber es klang zurückhaltend. »Doch was ich erfahren habe, ist kaum weniger von Interesse.«
Was die Mademoiselle zu berichten hatte, bezog sich auf die Struktur des Feuerleitstandes. Im Grunde war er ein ungeheuer komplexes Computernetz aus vielen Schichten, die sich über Jahrzehnte Schiffszeit aufgebaut hatten. Ob eine einzelne Person — selbst Volyova — imstande war, mehr als die Grundzüge dieser Struktur zu erfassen, durfte mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zu sehr griffen die verschiedenen, teils mehrfach gefalteten Schichten ineinander. Andererseits ließ sich der Feuerleitstand recht einfach überblicken, denn er war fast völlig vom Rest des Schiffes getrennt. Deshalb konnte man die höheren Funktionen der Weltraumgeschütze im Park nur steuern, wenn man sich persönlich im Kampfsitz befand. Der Leitstand war durch einen Firewall geschützt. Daten konnten zwar vom Rest des Schiffes einströmen, aber nicht in umgekehrter Richtung nach draußen. Das hatte taktische Gründe: Alle Bordwaffen (nicht nur die Weltraumgeschütze) mussten aus dem Schiff gebracht werden, bevor man sie abfeuern konnte. Damit boten sie feindlichen Viren die Möglichkeit, ins Schiff einzudringen. Um das zu verhindern, hatte man den Leitstand vom Rest des Datenraums getrennt und mit einer nur nach einer Richtung zu öffnenden Falltür geschützt. Diese Tür ließ nur Daten aus dem Schiff in den Leitstand; vom Innern des Leitstands aus war sie unpassierbar.
»Wir haben also festgestellt«, sagte die Mademoiselle, »dass wir im Feuerleitstand etwas entdeckt haben. Welche logische Schlussfolgerung ergibt sich daraus?«
»Was immer es ist, es ist durch ein Versehen hineingelangt.«
»Richtig.« Die Mademoiselle klang so zufrieden, als sei ihr der Gedanke selbst noch gar nicht gekommen. »Wir können wohl nicht ausschließen, dass die Entität über die Waffen Zugang zum Feuerleitstand gefunden hat, aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie durch die Falltür eingedrungen ist. Zufällig weiß ich auch, wann diese Tür zum letzten Mal passiert wurde.«
»Wie lange ist das her?«
»Achtzehn Jahre.« Bevor Khouri protestieren konnte, ergänzte die Mademoiselle: »Natürlich Schiffszeit. Nach Planetenzeit schätzungsweise achtzig bis neunzig Jahre vor Ihrer Anwerbung.«
»Sylveste«, staunte Khouri. »Sajaki sagte, Sylveste sei nur deshalb von Yellowstone verschwunden, weil man ihn an Bord dieses Schiffes gebracht hätte, um Captain Brannigan zu heilen. Passt das zeitlich zusammen?«
»Ganz ausgezeichnet, würde ich sagen. Wir kommen damit etwa ins Jahr 2460 — etwa zwanzig Jahre nach Sylvestes Rückkehr von den Schleierwebern.«
»Und Sie glauben, er hätte es mitgebracht — was immer es gewesen sein mag?«
»Wir wissen nur, was Sajaki uns erzählt hat. Demnach hatte Sylveste der Calvin-Simulation gestattet, seinen Körper zu übernehmen, um Captain Brannigan zu heilen. Irgendwann im Lauf der Operation muss Sylveste Verbindung mit dem Datenraum des Schiffes aufgenommen haben. Vielleicht hat sich der blinde Passagier dabei an Bord geschlichen. Anschließend — vermutlich schon sehr bald danach — passierte er die Tür, die nur in einer Richtung zu öffnen war, und gelangte in den Leitstand.«
»Und seither hält er sich dort auf?«
»Allem Anschein nach ja.«
Es hatte schon fast Methode: sobald Khouri den Eindruck gewann, eine gewisse Ordnung in die Ereignisse gebracht zu haben, tauchte eine neue Tatsache auf und riss das System in Fetzen. Sie kam sich vor wie ein mittelalterlicher Astronom, der immer kompliziertere Uhrwerkskosmologien entwerfen musste, um abweichende Beobachtungen integrieren zu können. Jetzt bestand plötzlich eine ganz obskure Verbindung zwischen Sylveste und dem Feuerleitstand. Immerhin hatte sie einen Trost. Hier war auch die Mademoiselle ratlos.
»Sie sagten, das Ding sei ein Feind«, bemerkte sie vorsichtig. Sie war selbst nicht sicher, ob sie noch weitere Fragen stellen wollte. Womöglich waren die Antworten so schwierig, dass sie ohnehin nichts damit anfangen konnte.
»Ja.« Die Mademoiselle zögerte. »Die Hunde waren ein Fehler«, sagte sie dann. »Ich war zu ungeduldig. Ich hätte sehen müssen, dass Sonnendieb…«
»Sonnendieb?«
»So nennt er sich. Der blinde Passagier, meine ich.«
Das war schlimm. Woher kannte sie diesen Namen? Khouri erinnerte sich blitzartig, dass Volyova sie einmal genau danach gefragt hatte. Aber das war es nicht allein. Der Name verfolgte sie schon seit längerem in ihren Träumen. Khouri setzte zum Sprechen an, aber die Mademoiselle kam ihr zuvor. »Er hat sich der Hunde bedient, um aus dem Leitstand zu entkommen, Khouri. Wenigstens mit einem Teil seiner selbst. Er ist mit den Hunden in Ihren Kopf gelangt.«