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Sylveste konnte in seinem neuen Gefängnis die Zeit nicht zuverlässig messen. So wusste er nur mit Sicherheit, dass seit seiner Gefangennahme viele Tage vergangen waren. Er hatte den Verdacht, dass man ihn ständig unter Drogen setzte, die ihn in einen komaartigen, zumeist traumlosen Schlaf versenkten. In den seltenen Träumen, die ihm beschieden waren, konnte er zwar sehen, aber alles drehte sich um die Gefahr zu erblinden und die Kostbarkeit seines Augenlichts. Wenn er erwachte, sah er nur Grau, doch nach einiger Zeit — vermutlich waren es mehrere Tage — verlor das Grau seine geometrische Struktur. Sie war seinem Gehirn zu lange aufgedrückt worden; nun wurde sie einfach ausgeschieden. Was blieb, war eine farblose Unendlichkeit, kein einförmiges Grau mehr, sondern nur ein hellerer Schein ohne jeden Farbwert.

Was mochte ihm wohl alles entgehen? Möglicherweise war seine Umgebung so reizarm und spartanisch, dass sein Verstand früher oder später die Wirklichkeit auch ausgefiltert hätte, wenn er noch hätte sehen können. Ringsum spürte er nur Felswände, die kein Echo zurückwarfen; es mussten Megatonnen von Gestein sein. An Pascale dachte er unentwegt, aber es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, die Erinnerung an sie zu bewahren. Das Grau sickerte in sein Gedächtnis ein und deckte es zu wie flüssiger Beton. Doch eines Tages, Sylveste hatte soeben seine Mahlzeit beendet, wurde die Zellentür aufgeschlossen und er vernahm zwei Stimmen.

Die erste gehörte Gillian Sluka.

»Tun Sie, was Sie können«, krächzte sie. »Mit gewissen Einschränkungen.«

»Er sollte für die Operation unter Narkose gesetzt werden«, sagte die zweite Stimme. Männlich und so dick wie Sirup. Sylveste erkannte den Mann an seinem nach Kohl riechenden Atem.

»Sollte er vielleicht, wird er aber nicht.« Die Frauenstimme zögerte, dann fügte sie hinzu: »Ich erwarte keine Wunder, Falkender. Ich will nur, dass der Dreckskerl mich ansehen kann.«

»Geben sie mir ein paar Stunden Zeit«, sagte Falkender. Sylveste hörte, wie er mit dumpfem Geräusch etwas auf den Tisch mit den abgerundeten Kanten stellte. »Ich werde mein Bestes tun«, murmelte er wie zu sich selbst. »Aber soviel ich weiß, waren seine Augen schon bevor Sie ihn blenden ließen, nicht besonders leistungsfähig.«

»Eine Stunde.«

Sie ging hinaus und knallte die Tür zu. Sylveste, der seit seiner Gefangennahme in ewiger Stille lebte, spürte die Schwingungen bis in den letzten Winkel seines Gehirns. Zu lange hatte er sich bemüht, das leiseste Geräusch aufzufangen, das ihm einen Hinweis auf sein Schicksal geben könnte. Gehört hatte er nichts, aber mit der Zeit hatte ihn die Stille empfindlich gemacht.

Er roch, dass Falkender sich über ihn beugte. »Es ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten, Dr. Sylveste«, sagte er fast schüchtern. »Ich hoffe sehr, die Schäden, die sie Ihnen zugefügt hat, zum größten Teil beheben zu können. Ich brauche nur Zeit.«

»Sie hat Ihnen eine Stunde gegeben«, stellte Sylveste fest. Sogar seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren; zu lange hatte er nur im Schlaf irgendwelchen Unsinn vor sich hin gemurmelt. »Was können Sie in einer Stunde schon ausrichten?«

Er hörte den Mann in seinen Instrumenten kramen. »Zumindest kann ich Ihren Zustand verbessern.« Er unterstrich seine Bemerkungen, indem er mit der Zunge schnalzte. »Wenn Sie stillhalten, erreiche ich natürlich mehr. Aber ich kann nicht versprechen, dass es angenehm sein wird.«

»Sie tun sicher alles, was in Ihren Kräften steht.«

Der Mann strich ihm prüfend mit den Fingerspitzen über die Augäpfel.

»Ich habe Ihren Vater immer bewundert.« Wieder dieses Zungenschnalzen. Sylveste fühlte sich an einen von Janequins Pfauen erinnert. »Jedermann weiß, dass er die Augen für sie angefertigt hat.«

»Nur seine Beta-Simulation«, verbesserte Sylveste.

»Natürlich, natürlich.« Er sah förmlich vor sich, wie Falkender den feinen Unterschied mit wegwerfender Handbewegung abtat. »Nicht einmal das Alpha — es ist allgemein bekannt, dass es schon vor Jahren verschwunden ist.«

»Ich habe es an die Schieber verkauft«, sagte Sylveste tonlos. Die Wahrheit schoss ihm aus dem Mund wie ein Melonenkern, nachdem er sie so viele Jahre lang für sich behalten hatte.

Falkender stieß einen gutturalen Laut aus, und Sylveste begriff erst nach einer Weile, dass das vielleicht ein Lachen gewesen war. »Natürlich, natürlich. Eigentlich erstaunlich, dass man Ihnen gerade das nie unterstellt hat. So zynisch ist die Menschheit.« Ein schrilles Jaulen erfüllte die Luft, gefolgt von nervenzerfetzenden Schwingungen. »Ich fürchte, von Ihrem Farbensinn müssen Sie sich verabschieden«, sagte Falkender. »Mehr als Schwarzweiß bringe ich in der Eile wohl nicht zustande.«

Khouri hatte auf eine geistige Atempause gehofft, in der sie ihre Gedanken sammeln und in aller Ruhe auf die Atemzüge der Präsenz lauschen konnte, die in ihren Kopf eingedrungen war. Aber die Mademoiselle hörte nicht auf zu reden.

»Ich glaube, Sonnendieb hat so etwas schon einmal versucht«, sagte sie. »Ich spreche natürlich von Ihrem Vorgänger.«

»Sie meinen, der blinde Passagier wollte auch in Nagornys Kopf eindringen?«

»Genau das. Nur gab es in Nagornys Fall keine Bluthunde, an die er sich anhängen konnte. Deshalb musste Sonnendieb auf primitivere Mittel zurückgreifen.«

Khouri überlegte, was sie von Volyova über den Vorfall erfahren hatte.

»Primitiv genug, um Nagorny in den Wahnsinn zu treiben?«

»Ganz offensichtlich«, nickte ihre ständige Begleiterin. »Vielleicht hat Sonnendieb lediglich versucht, dem Mann seinen Willen aufzuzwingen. Aus dem Feuerleitstand konnte er nicht entkommen, also begnügte er sich damit, Nagorny zu seiner Marionette zu machen. Vielleicht nahm er immer dann Einfluss auf Nagornys Unterbewusstsein, wenn der sich im Leitstand aufhielt.«

»Mit welchen Schwierigkeiten muss ich rechnen?«

»Im Moment ist es noch nicht allzu schlimm. Es waren nur ein paar Hunde — damit konnte er nicht viel Schaden anrichten.«

»Was geschah mit den Hunden?«

»Ich habe sie natürlich decodiert — um ihre Botschaft zu erfahren. Aber dabei habe ich mich geöffnet. Für Sonnendieb, meine ich. Die Hunde hatten ihn wohl etwas behindert, denn sein Angriff auf mich war alles andere als raffiniert. Für mich war das ein Glück, sonst hätte ich meine Abwehr womöglich nicht mehr rechtzeitig aktivieren können. Er war nicht allzu schwer zu besiegen, aber ich musste mich natürlich auch nur mit einem kleinen Teil von ihm herumschlagen.«

»Dann bin ich also in Sicherheit?«

»Nicht ganz. Ich konnte ihn vertreiben — allerdings nur aus dem Implantat, in dem ich mich aufhalte. Leider wirkt meine Abwehr nicht auf Ihre anderen Implantate, auch nicht auf die von Volyova eingesetzten.«

»Er ist also immer noch in meinem Kopf?«

»Vielleicht hat er die Hunde gar nicht gebraucht«, überlegte die Mademoiselle. »Er könnte auch schon in Volyovas Implantate eingedrungen sein, als Volyova Sie zum ersten Mal in den Leitstand brachte. Aber die Hunde kamen ihm sicher gelegen. Hätte er nicht versucht, mich damit zu überfallen, dann hätte ich am Ende gar nicht bemerkt, dass er die anderen Implantate bereits besetzt hatte.«

»Ich fühle mich wie immer.«

»Gut. Das bedeutet, dass meine Gegenmaßnahmen wirken. Wissen Sie noch, wie ich gegen Volyovas Loyalitätsbehandlung vorging?«

»Ja«, sagte Khouri düster. Sie war nicht sicher, ob die Gegenmaßnahmen so wirkungsvoll gewesen waren, wie die Mademoiselle gerne glauben wollte.

»Nun, diesmal läuft es ähnlich. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich mich auf die Bereiche Ihres Bewusstseins konzentriere, die Sonnendieb besetzt hält. Seit zwei Jahren führen wir nun schon so etwas wie…« Sie zögerte kurz, dann kam ihr offenbar die Erleuchtung. »Man könnte es wohl als Kalten Krieg bezeichnen.«