»Kalt müsste er schon sein.«
»Und langsam«, ergänzte die Mademoiselle. »Die Kälte entzog uns die Energie für weitergehende Aktivitäten. Und wir mussten uns natürlich in Acht nehmen, um Sie nicht zu verletzen. Nur unversehrt waren Sie für mich wie für Sonnendieb zu gebrauchen.«
Khouri fiel wieder ein, warum dieses Gespräch überhaupt möglich war.
»Aber jetzt haben Sie mich erwärmt…«
»Sie begreifen schnell. Mit der Erwärmung ist der Kampf härter geworden. Ich könnte mir denken, dass Volyova bereits Verdacht geschöpft hat. Ihr Gehirn wird nämlich mit einem besonderen Scanner, einem so genannten Trawl überwacht. Das Gerät könnte den neuralen Krieg zwischen Sonnendieb und mir entdeckt haben. Ich konnte nicht nachgeben — das hätte Sonnendieb sofort ausgenützt, um meine Abwehr außer Kraft zu setzen.«
»Aber Sie können ihn in Schach halten…«
»Ich denke schon. Falls es mir jedoch nicht gelingen sollte, dann wissen Sie jetzt wenigstens, was vorgeht.«
So weit ganz vernünftig: es war besser zu wissen, dass Sonnendieb in sie eingedrungen war, als sich der Illusion hinzugeben, sie sei ihr eigener Herr.
»Außerdem wollte ich Sie warnen. Sonnendieb befindet sich zum größten Teil nach wie vor im Feuerleitstand. Ich bin überzeugt davon, dass er bei der ersten Gelegenheit versuchen wird, vollständig oder so vollständig wie möglich in Sie einzudringen.«
»Das hieße wohl, bei meiner nächsten Sitzung im Feuerleitstand?«
»Viel lässt sich dagegen nicht tun, zugegeben«, sagte die Mademoiselle. »Aber ich hielt es für besser, wenn Sie die Situation in ihrer Gesamtheit überblicken.«
Davon konnte wohl noch lange nicht die Rede sein, dachte Khouri. Aber das Gespenst hatte Recht. Es war besser, auf eine Gefahr vorbereitet zu sein, als ahnungslos hineinzustolpern.
»Wissen sie«, sagte sie, »wenn es wirklich Sylveste war, der dieses Wesen hier eingeschleppt hat, dann wird mich sein Tod nicht allzu sehr belasten.«
»Gut. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass die Nachrichten nicht so schlecht bleiben werden. Als ich die Hunde in den Feuerleitstand schickte, schleuste ich auch einen Avatar von mir mit ein. Und aus den Berichten der Hunde weiß ich, dass dieser Avatar zumindest in den ersten Tagen von Volyova nicht entdeckt wurde. Natürlich war das vor mehr als zwei Jahren… aber ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass er seither gefunden wurde.«
»Vorausgesetzt, Sonnendieb hat ihn nicht zerstört.«
»Ein berechtigter Einwand«, räumte das Gespenst ein. »Aber wenn Sonnendieb so intelligent ist, wie ich glaube, wird er alles unterlassen, womit er auf sich aufmerksam machen würde. Er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob nicht Volyova den Avatar ins System geschickt hat. Sie hat schließlich auch ihre Zweifel.«
»Und warum haben Sie es getan?«
»Um notfalls den Feuerleitstand in meine Gewalt zu bringen.«
Hätte Calvin ein Grab gehabt, dachte Sylveste, dann hätte sich sein Vater darin jetzt schneller gedreht als Cerberus um den Neutronenstern Hades. Diese Misshandlung seines Werkes hätte ihn hellauf empört. Allerdings war Calvin selbst bereits lange tot oder zumindest entmaterialisiert gewesen, als seine Simulation die Sehwerkzeuge konstruierte. Mit solchen Gedankenspielen gelang es Sylveste, sich zumindest zeitweilig von seinen Schmerzen abzulenken. Eigentlich hatte er während seiner Gefangenschaft ständig Schmerzen gelitten. Falkender überschätzte sich, wenn er glaubte, mit seinen chirurgischen Eingriffen Sylvestes Qualen nennenswert zu steigern.
Doch irgendwann ließ der Schmerz wie durch ein Wunder nach.
Es war, als entstehe in Sylvestes Bewusstsein ein Vakuum, eine eiskalte, leere Kammer, die vorher nicht da gewesen war. Mit dem Schmerz brach sozusagen eine innere Stütze weg. Sylveste spürte, wie er in sich zusammensank, wie die Schlusssteine seiner Psyche herausfielen, weil sie das Gewicht nicht mehr tragen konnten. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein inneres Gleichgewicht halbwegs wiederherzustellen.
Plötzlich tanzten farblose Schemen vor seinen Augen.
Sekunden später hatten sie sich zu klaren Formen verfestigt. Die Wände eines Raums — genau so glatt und leer wie in seiner Vorstellung — und eine maskierte Gestalt, die sich tief über ihn beugte. Falkenders Hand steckte in einem Handschuh aus Chrom, der an Stelle von Fingern in einer Vielzahl von blitzenden Mikroinstrumenten endete. Vor einem Auge hatte der Mann ein Linsenmonokel, das über ein biegsames Stahlkabel mit dem Handschuh verbunden war. Seine Haut war so fahl wie der Bauch einer Eidechse: das sichtbare Auge schielte und war bläulich verfärbt. Die Stirn war mit getrocknetem Blut bespritzt. Die Spritzer waren graugrün, aber Sylveste erkannte trotzdem, worum es sich handelte.
Tatsächlich war alles graugrün, fiel ihm jetzt auf.
Der Handschuh entfernte sich, Falkender zog ihn sich aus. Seine bloße Hand war mit einer dicken, glänzenden Ölschicht bedeckt.
Er packte seine Geräte zusammen. »Ich habe Ihnen keine Wunder versprochen«, sagte er. »Und sie durften auch keine erwarten.«
Seine Bewegungen wirkten abgehackt. Sylveste begriff erst nach einer Weile, dass seine Augen nur drei bis vier Bilder pro Sekunde verarbeiten konnten. Die Welt bewegte sich so stotternd wie die Bilder, die er als Kind mit Bleistift auf die Ecken von Buchseiten gemalt und durch rasches Blättern zwischen Daumen und Zeigefinger zum Leben erweckt hatte. Alle paar Sekunden verkehrte sich die Tiefenwahrnehmung in verwirrender Weise in ihr Gegenteil, dann erschien Falkender als menschenförmige Nische in der Zellenwand. Manchmal verklemmte sich ein Teil des Blickfelds für zehn Sekunden oder länger und veränderte sich nicht, auch wenn er in einen anderen Teil des Raumes schaute.
Immerhin hatte er sein Sehvermögen oder zumindest dessen schwachsinnigen Vetter wieder.
»Ich danke Ihnen«, sagte Sylveste. »Es ist… eine Verbesserung.«
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Falkender. »Wir sind schon fünf Minuten über die Zeit.«
Sylveste nickte, und das genügte, um heftige Migränewellen auszulösen, die allerdings ungleich schwächer waren als die Schmerzen, die er vor Falkenders Eingriff hatte erdulden müssen.
Er wälzte sich von der Liege und ging zur Tür. Vielleicht lag es daran, dass er ein Ziel hatte — dass er zum ersten Mal erwartete, durch diese Tür hinauszugehen — jedenfalls kam ihm die Aktion plötzlich so abwegig und sinnlos vor, als würde er sich ohne weiteres in einen Abgrund stürzen. Er war jetzt völlig aus dem Gleichgewicht. Er hatte sich so an seine Blindheit gewöhnt, dass ihn die Wiederkehr des Sehvermögens in tiefe Verwirrung stürzte. Aber das Schwindelgefühl legte sich rasch, als zwei stämmige Vertreter des Wahren Weges eintraten und ihn an den Armen fassten.
Falkender folgte ihm. »Seien Sie vorsichtig. Es könnten Wahrnehmungslücken auftreten…«
Sylveste hörte die Worte, aber sie bedeuteten ihm nichts. Er wusste jetzt, wo er war, und dieses Wissen verdrängte im Moment alles andere. Er war nach mehr als zwanzig Jahren im Exil wieder zu Hause.
Sein Gefängnis lag in Mantell, dem Ort, den er seit dem Umsturz nicht wiedergesehen — und selbst in seinen Erinnerungen kaum jemals besucht hatte.
Zehn
Im Anflug auf Delta Pavonis
2564
Volyova saß allein auf der Brücke — einem riesigen, kugelförmigen Raum — unter der holografischen Projektion des Resurgam-Systems. Wie die leeren Plätze ringsum war auch ihr Sitz an einem langen Teleskoparm mit vielen Gelenken angebracht und ließ sich damit praktisch an jeden Punkt der Kugel steuern. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte nun schon seit Stunden so fasziniert auf das Hologramm des Sternensystems wie ein Kind auf ein glänzendes Spielzeug.