»Einige von uns konnten aus dem Schlepper fliehen, bevor Girardieus Schergen kamen. Wir nahmen an Geräten mit, so viel wir tragen konnten, und schlugen uns bis zu den Bird’s Claw-Canyons durch. Dort stellten wir aufblasbare Zelte auf. Aus einem solchen Zelt kam ich ein volles Jahr nicht mehr heraus. Ich wurde bei dem Angriff ziemlich schwer verletzt.«
Sylveste strich mit den Fingern über die fleckige Oberfläche einer der Kugeln auf den schlanken Sockeln. Erst jetzt sah er, dass es sich um topografische Darstellungen von Resurgam in verschiedenen Phasen des Terraformungs-Programms der Fluter handelte. »Warum sind Sie nicht zu Girardieu nach Cuvier gegangen?«, fragte er.
»Jemanden wie mich wollte er nicht zu seinen Schäfchen zählen, das war ihm peinlich. Er ließ uns nur deshalb am Leben, weil er uns nicht töten konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Es gab gewisse Verbindungen, aber die rissen ab.« Sie hielt inne. »Zum Glück hatten wir einige von Remilliods Spielereien mitgenommen. Die Scavenger-Enzyme waren am nützlichsten. Jetzt kann uns der Staub nichts mehr anhaben.«
Wieder studierte Sylveste die Kugeln. Dank seines mangelhaften Sehvermögens konnte er die Farben der Planetenlandschaften nur erahnen, aber man konnte davon ausgehen, dass die Kugeln eine stetige Entwicklung in Richtung Blau-Grün zeigten. Wo jetzt Hochplateaus aufragten, sollten Landmassen inmitten von Ozeanen entstehen. Die Steppen sollten unter dichten Wäldern verschwinden. Er wandte sich den hintersten Kugeln zu. Sie zeigten Resurgam so, wie es in mehreren hundert Jahren aussehen sollte. Auf der Nachtseite leuchteten reihenweise Städte und ein Gürtel von spielzeugkleinen Habitats zog sich um den Planeten. Spinnwebfeine Weltraumbrücken schwangen sich vom Äquator zum Orbit. Wie wären wohl die Aussichten für diesen zarten Wunschtraum, dachte er, wenn Resurgams Sonne abermals explodierte wie schon einmal vor neunhundertneunzigtausend Jahren, genau zu dem Zeitpunkt, als sich die Zivilisation der Amarantin einer der menschlichen vergleichbaren Entwicklungsstufe näherte?
Vermutlich nicht allzu gut.
»Was haben Sie außer der Biotechnik noch von Remilliod bekommen?«, fragte er. »Sie verstehen sicher, dass ich neugierig bin.«
Sie schien ihn bei Laune halten zu wollen.
»Sie haben nicht nach Cuvier gefragt. Das überrascht mich. Und auch nicht nach Ihrer Frau«, fügte sie hinzu.
»Falkender sagte mir, Pascale sei in Sicherheit.«
»Das stimmt. Vielleicht erlaube ich Ihnen irgendwann sogar, sie zu sehen. Aber jetzt hören Sie mir gut zu. Wir haben die Stadt nicht erobert. Der Rest von Resurgam gehört uns, aber Cuvier wird immer noch von Girardieus Leuten gehalten.«
»Steht die Stadt noch?«
»Nein«, sagte sie. »Wir…« Sie sah Falkender an, der hinter Sylveste stand. »Könnten Sie Delaunay holen? Er soll eins von Remilliods Geschenken mitbringen.«
Falkender ging und ließ sie allein zurück.
»Wenn ich recht unterrichtet bin, hatten Sie mit Nils ein Abkommen getroffen«, sagte Sluka. »Die Gerüchte sind allerdings so widersprüchlich, dass man nicht klug daraus wird. Könnten Sie mir Genaueres sagen?«
»Die Sache war nie amtlich«, sagte Sylveste. »Was immer Sie gehört haben mögen.«
»Soviel ich weiß, hatte seine Tochter den Auftrag, Sie in ein wenig schmeichelhaftes Licht zu rücken.«
»Eine sinnvolle Strategie«, sagte Sylveste müde. »Wenn ein Mitglied der Familie, die mich gefangen hielt, meine Biografie verfasste, verlieh das dem Werk ein gewisses Ansehen. Und Pascale war jung, aber nicht mehr zu jung, um sich einen Namen zu machen. Die Sache hatte Vorteile für alle Beteiligten: Pascale konnte kaum scheitern, wobei man gerechterweise sagen muss, dass sie ihrer Aufgabe vorzüglich gerecht wurde.« Schmerzhaft durchzuckte ihn die Erinnerung, wie dicht sie davor gestanden hatte, das Schicksal von Calvins Alpha-Simulation aufzudecken. Heute war er mehr denn je davon überzeugt, dass sie die Wahrheit zwar erraten, aber darauf verzichtet hatte, sie in die Biografie aufzunehmen. Inzwischen wusste sie natürlich sehr viel mehr: zum Beispiel, was sich bei der Expedition zu Lascailles Schleier abgespielt hatte und dass die Umstände von Carine Lefevres Tod nicht so klar waren, wie er es bei seiner Rückkehr nach Yellowstone dargestellt hatte. Allerdings hatte er seit diesem Geständnis nicht mehr mit ihr gesprochen. »Girardieu wiederum hatte die Genugtuung, den Namen seiner Tochter in einem Atemzug mit einem wirklich wichtigen Projekt genannt zu hören. Ganz zu schweigen davon, dass aller Welt mein Innerstes zur gefälligen Begutachtung vorgelegt wurde. Ich war der kostbarste Schmetterling in seiner Sammlung — aber bis zu dieser Biografie war es nicht so einfach für ihn, mich auszustellen.«
»Ich habe die Biografie durchlebt«, sagte Sluka. »Und ich bin nicht sicher, ob Girardieu auch bekommen hat, was er wollte.«
»Trotzdem versprach er, sein Wort zu halten.« Seine Augen versagten plötzlich den Dienst. Die Frau, mit der er sprach, war nur noch ein frauenförmiges Loch im Raum. Dahinter gähnte die Unendlichkeit.
Die Störung ging schnell vorüber. Er fuhr fort: »Ich wollte Cerberus/Hades besuchen. Ich glaube — gegen Ende — war Nils fast bereit, mir die Reise zu ermöglichen, falls die Kolonie die Mittel hätte aufbringen können.«
»Sie glauben, dort wäre etwas zu finden?«
»Wenn sie mit meinen Ideen vertraut sind«, sagte Sylveste, »müssen Sie sich ihrer Logik beugen.«
»Ich finde sie faszinierend — wie jeden Irrglauben.«
Während sie noch sprach, ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, den Sylveste noch nie gesehen hatte. Falkender folgte ihm auf dem Fuß. Der Neue — vermutlich Delaunay — war untersetzt wie eine Bulldogge. Er hatte mehrere Tage alte Bartstoppeln, auf dem Kopf trug er ein violettes Barett. Die Augen waren von roten Ringen umgeben und um seinen Hals hing eine Staubschutzbrille. Gurtbänder spannten sich über seinen Brustkorb, die Füße steckten in ockergelben Mukluks.
»Zeigen Sie unserem Gast das böse kleine Ding«, sagte Sluka.
Delaunay hielt einen offenbar sehr schweren schwarzen Zylinder mit einem dicken Henkelgriff in einer Hand.
»Nehmen Sie«, befahl Sluka.
Sylveste gehorchte. Das Ding war so schwer, wie er erwartet hatte. Der Griff war auf der Oberseite des Zylinders angebracht; darunter befand sich eine grüne Taste. Sylveste stellte den Behälter auf den Tisch; er war zu schwer, um ihn längere Zeit mühelos halten zu können.
»Machen Sie ihn auf«, befahl Sluka.
Er drückte auf die Taste — sie bot sich förmlich an — und der Zylinder öffnete sich wie eine russische Babuschka.
Vier Metallstützen drückten die obere Hälfte in die Höhe. Darunter kam ein kleinerer Zylinder zum Vorschein. Dieser innere Zylinder spaltete sich auf die gleiche Weise, darunter befand sich ein dritter und das wiederholte sich noch fünf bis sechs Mal.
Ganz innen befand sich ein schmaler Silberstab mit einem winzigen Fensterchen auf einer Seite. Dahinter lag in einem beleuchteten Hohlraum eine Art Stecknadel mit dickem Kopf.
»Inzwischen werden Sie sicher erkannt haben, was das ist«, sagte Sluka.
»Ich kann mir denken, dass es nicht hier auf dem Planeten hergestellt wurde«, sagte Sylveste. »Und ich weiß, dass wir nichts dergleichen von Yellowstone mitgebracht haben. Damit bleibt nur Remilliod, unser vortrefflicher Wohltäter. Hat er es Ihnen verkauft?«
»Zusammen mit neun weiteren«, nickte sie. »Jetzt sind es nur noch acht, das zehnte haben wir gegen Cuvier eingesetzt.«
»Es ist eine Waffe?«
»Remilliods Leute nannten es ›heißer Staub‹«, erklärte Sluka. »Antimaterie. Der Stecknadelkopf enthält nur ein Zwanzigstel Gramm Antilithium, aber das ist mehr als ausreichend für unsere Zwecke.«
»Ich wusste nicht, dass es derartige Waffen überhaupt gibt«, sagte Sylveste. »In so kleiner Ausführung, meine ich.«
»Verständlich. Die Technik ist schon so lange verboten, dass kaum noch jemand weiß, wie man solche Dinge herstellt.«