»Die ›Dreißig Tage in der Wildnis‹?«
»Eine alberne Bezeichnung«, knirschte Volyova. »Warum diese biblische Ausdrucksweise? Dabei hat er ohnehin schon einen Messiaskomplex, wenn Sie mich fragen. Wie auch immer, ja, damals haben wir ihn hierher aufs Schiff geholt. Interessant daran ist, dass die Resurgam-Expedition erst volle dreißig Jahre später von Yellowstone aufbrach. Und jetzt verrate ich Ihnen ein Geheimnis. Bis wir nach Yellowstone zurückkamen und Sie anheuerten, ahnten wir nichts von der Existenz dieser Expedition. Wir rechneten damit, Sylveste immer noch auf Yellowstone zu finden.«
Khouri konnte nach ihren Erfahrungen mit Fazil gut nachempfinden, vor welchen Schwierigkeiten Volyova und die Besatzung gestanden haben mussten, aber sie hielt es für überzeugender, die Ahnungslose zu spielen.
»Ein Fehler, sich nicht vorher zu erkundigen.«
»Keineswegs. Wir hatten durchaus Informationen eingeholt — doch die waren mehrere Jahrzehnte alt, als wir sie erhielten. Und als wir endlich danach handelten — als wir Yellowstone anflogen —, hatte sich ihr Alter noch einmal verdoppelt.«
»Die Chancen standen wohl trotzdem nicht allzu schlecht. Die Familie war immer eng mit Yellowstone verbunden gewesen, also konnte man davon ausgehen, dass auch der reiche junge Prinz sich nach wie vor dort herumtrieb.«
»Was allerdings ein Irrtum war. Interessant daran ist nur, dass es inzwischen den Anschein hat, als hätten wir uns die ganze Mühe sparen können. Möglicherweise war die Resurgam-Expedition bereits geplant, als wir Sylveste beim ersten Mal an Bord hatten. Hätten wir ihm nur richtig zugehört, dann hätten wir direkt dorthin fliegen können.«
Auf dem Weg durch das komplizierte Netz von Fahrstühlen und Tunnels zwischen dem Korridor des Captains und der Waldlichtung sprach Volyova ganz leise in das Armband, das sie stets am Handgelenk trug. Khouri wusste, dass sie Verbindung mit einer der vielen künstlichen Persönlichkeiten auf dem Schiff aufnahm, konnte aber nicht erraten, welche Vorkehrungen sie treffen wollte.
Nach der gnadenlosen Kälte und Düsterkeit im Korridor des Captains war das Grün der Lichtung ein Fest für die Sinne. Die Luft war warm und duftete nach Blüten, und die bunten Vögel in den Lüften leuchteten fast zu grell für Khouris an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Zunächst war sie völlig überwältigt und bemerkte gar nicht, dass sie und Volyova nicht allein waren. Doch dann sah sie die drei Gestalten, die im taufeuchten Gras um einen Baumstumpf knieten. Eine davon war Sajaki, aber mit einer Frisur, die sie noch nie an ihm gesehen hatte: bis auf einen Haarknoten war sein Schädel vollkommen kahl. Die zweite war Volyova selbst — sie trug das Haar wieder kurz, was die eckige Form ihres Kopfes betonte und sie älter aussehen ließ als die Volyova, die neben Khouri stand. In der dritten Gestalt erkannte Khouri Dan Sylveste.
»Wollen wir zu ihnen gehen?«, fragte Volyova und stieg über die schwankende Treppe ins Gras hinab.
Khouri folgte. »Das war…« Sie rief sich das Jahr ins Gedächtnis, in dem Sylveste aus Chasm City verschwunden war. »Um 2460, richtig?«
»Ins Schwarze getroffen!« Volyova wandte sich um und sah Khouri gelinde erstaunt an. »Sind Sie Expertin für Sylvestes Lebensgeschichte? Schon gut. Wichtig ist, dass wir den gesamten Besuch aufgezeichnet haben. Ich weiß genau, dass dabei eine Bemerkung fiel, die mir… nun, im Lichte dessen, was wir heute wissen, recht aufschlussreich vorkommt.«
»Faszinierend.«
Khouri zuckte zusammen. Nicht sie hatte gesprochen, die Stimme war von hinten gekommen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Mademoiselle in einiger Entfernung oben an der Treppe stand.
»Ich hätte mir denken können, dass Sie Ihre hässliche Visage zeigen würden«, sagte Khouri. Sie hatte nicht einmal stumm artikuliert, aber das ständige Geschnatter der Singvögel war so laut, dass Volyova, die vorausgegangen war, sie nicht hören konnte. »Sie sind wie ein falscher Geldschein. Man wird Sie nicht los.«
»Wenigstens wissen Sie jetzt, dass ich noch da bin«, sagte die Mademoiselle. »Sonst hätten Sie nämlich allen Grund, sich Sorgen zu machen, denn das hieße, dass Sonnendieb meine Abwehr durchbrochen hätte. Als Nächstes ginge es Ihrem Verstand an den Kragen, und wie sich das auf Ihre Beschäftigungsaussichten bei Volyova auswirken würde, möchte ich mir lieber nicht ausmalen.«
»Halten Sie den Mund. Ich möchte hören, was Sylveste zu sagen hat.«
»Nur zu«, sagte die Mademoiselle knapp, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Khouri trat zu Volyova, die jetzt dicht neben dem Trio stand.
»Natürlich«, sagte die stehende Volyova, »hätte ich das Gespräch auch an jeder anderen Stelle des Schiffes abspielen können. Aber es hat hier stattgefunden, und deshalb möchte ich es auch hier wiederholen.« Während sie sprach, griff sie in ihre Jackentasche, zog eine rauchgraue Brille heraus und setzte sie auf. Khouri verstand: da Volyova keine Implantate hatte, konnte sie die Aufzeichnung nur über direkte Netzhautprojektion verfolgen. Ohne Projektionsbrille waren die Gestalten für sie unsichtbar.
»Es liegt also«, sagte Sajaki gerade, »in Ihrem eigenen Interesse, unsere Forderungen zu erfüllen. Sie haben in der Vergangenheit Hilfe von Ultra-Elementen in Anspruch genommen — zum Beispiel für Ihre Reise zu Lascailles Schleier — und es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie das auch in Zukunft tun wollen.«
Sylveste hatte die Ellbogen auf den Baumstumpf gestützt. Khouri sah sich den Mann genau an. Sie hatte schon viele lebensechte Projektionen von ihm gesehen, aber dieses Bild erschien ihr realer als alle anderen bisher. Vermutlich lag es daran, dass sie ihn im Gespräch mit zwei Personen erlebte, die sie kannte, und nicht mit namenlosen Gestalten aus Yellowstones Geschichte. Das war ein großer Unterschied. Er sah gut aus, unwahrscheinlich gut sogar, trotzdem bezweifelte sie, dass das Bild kosmetisch geschönt worden war. Das lange Haar hing zu beiden Seiten der Denkerstirn in wirren Strähnen herab; die Augen waren leuchtend grün. Selbst wenn sie in diese Augen schauen müsste, bevor sie ihn tötete — was bei den Vorschriften der Mademoiselle nicht auszuschließen war —, sie hätte sie gerne einmal in Wirklichkeit gesehen.
»Das hört sich doch sehr nach Erpressung an«, sagte Sylveste. Er sprach von den dreien am leisesten. »Sie reden, als gäbe es einen festen Beistandspakt zwischen allen Ultras. Mag sein, dass Sie manche Leute damit täuschen können, Sajaki, aber bei mir sind Sie an den Falschen geraten.«
»Dann könnten Sie eine böse Überraschung erleben, wenn Sie wieder einmal versuchen sollten, die Ultras für Ihre Pläne einzuspannen«, antwortete Sajaki und spielte mit einem Holzsplitter. »Damit das ganz klar ist. Wenn Sie unsere Bitte ablehnen, garantiere ich Ihnen, dass Sie — zusätzlich zu allen anderen Nachteilen, die Sie sich damit einhandeln — Ihren Heimatplaneten niemals verlassen werden.«
»Ich glaube nicht, dass mich das allzu sehr stören würde.«
Volyova — die sitzende Ausgabe — schüttelte den Kopf. »Unsere Spitzel sagen etwas anderes. Gerüchten zufolge versuchen Sie zurzeit, eine Expedition zum Delta Pavonis-System zu finanzieren, Dr. Sylveste.«
»Nach Resurgam?«, schnaubte Sylveste. »Wohl kaum. Was gäbe es da schon zu holen?«
Die echte, stehende Volyova sagte: »Er lügt. Jetzt ist das ganz offensichtlich, aber damals dachte ich, das Gerücht sei eben falsch gewesen.«
Sajaki hatte Sylveste geantwortet, nun ergriff Sylveste wieder das Wort und sagte abwehrend: »Was kümmern mich Ihre Gerüchte — hören Sie einfach nicht darauf. Es spricht überhaupt nichts dafür, nach Resurgam zu fliegen. Sehen Sie sich die Berichte an, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Genau das ist sonderbar«, sagte die stehende Volyova. »Ich habe mir die Berichte angesehen, und, verdammt, er hatte Recht. Nach allem, was zu jener Zeit bekannt war, gab es absolut keinen Anlass, an eine Expedition nach Resurgam auch nur zu denken.«