Jetzt hatte Khouri zumindest die Zielsuchsysteme unter Kontrolle, obwohl sie nur träge reagierten. Sie erfasste das Weltraumgeschütz, umgab es in seiner Gesamtheit mit einer Sphäre potenzieller Vernichtung. Jetzt brauchte die Mademoiselle nur noch für eine Mikrosekunde die Kontrolle über die Waffen abzugeben, das würde genügen, um zu zielen, zu feuern, zu vernichten.
Sie spürte, wie der Widerstand nachließ. Sie — oder vielmehr sie und Sonnendieb — sollten offenbar Sieger bleiben.
»Tun Sie es nicht, Khouri. Sie wissen nicht, was auf dem Spiel steht…«
»Dann klären Sie mich auf, verdammt. Was ist so wichtig? Sagen Sie es mir!«
Das Weltraumgeschütz entfernte sich weiter, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Mademoiselle um seine Sicherheit fürchtete. Aber die Gravitationsstrahlung verstärkte sich, die Wellen kamen jetzt so schnell, dass sie kaum noch auseinander zu halten waren. Niemand wusste, wie lange es noch dauerte, bis das Geschütz feuerte, aber Khouri vermutete, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte.
»Hören Sie, Khouri!«, sagte die Mademoiselle. »Sie wollen die Wahrheit wissen?«
»Ja, verdammt noch mal!«
»Dann machen Sie sich auf etwas gefasst. Gleich kommt die geballte Ladung.«
Und dann — kaum dass sie sich an die Umgebung des Waffenraums gewöhnt hatte — wurde sie in eine ganz andere Realität gerissen. Seltsam war, dass es sich dabei um einen Teil ihrer selbst handelte, den sie bis zu diesem Augenblick vollkommen übersehen hatte.
Sie waren auf einem Schlachtfeld, auf dem Gelände eines Nothospitals oder eines vorgeschobenen Kommandopostens, umgeben von aufblasbaren Chamäleo-Zelten und provisorischen Umzäunungen. Über dem Lager spannte sich ein azurblauer Himmel mit weißen Wolken, zwischen die sich schmutzige Qualmstreifen mischten, als spritze ein weltumspannender Oktopus seine Tinte in die Stratosphäre. Zahlreiche Düsenflugzeuge mit gepfeilten Flügeln erzeugten die Kondensstreifen und tauchten unter ihnen hindurch. Weiter unten schwebten Drohnenluftschiffe und noch tiefer jagten bullige Transporthubschrauber mit Kippflügeln und Tandemfahrwerk am Rand des Lagers entlang. Sie gingen gelegentlich zu Boden, um Schützenpanzer oder Fußtruppen, Krankenwagen oder gepanzerte Servomaten auszuspucken. Vor einer Seite des Lagers erstreckte sich ein verbrannter Grasstreifen, das Vorfeld. Dort standen sechs fensterlose Deltaflügler, Senkrechtstarter mit ausgefahrenen Kufen, die ihre Farbe exakt dem sonnengebleichten Boden angepasst hatten. Ihre Irisblenden waren zur Inspektion geöffnet.
Khouri stolperte und fiel ins Gras. Sie trug einen Chamäleo-Anzug, der zurzeit in verschiedenen Khakitönen gefleckt war. In den Händen hielt sie eine leichte Projektilwaffe. Der Metallgriff schmiegte sich wie selbstverständlich gegen ihre Handflächen. Auf dem Kopf hatte sie einen Helm, von dessen Rand ein 2-D-Monokel hing. Es zeigte eine Falschfarbenkarte der Kampfzone, die nach den Telemetriedaten von einem der Luftschiffe erstellt wurde.
»Hier entlang, bitte.«
Ein Weißhelm führte sie in eines der Zelte. Drinnen nahm ihr eine Ordonnanz die Waffe ab, kennzeichnete sie mit einem Ident-Chip und stellte sie zu acht anderen — von Projektilwaffen wie ihrer eigenen über Schießprügel mittlerer Leistung bis zu einer verheerenden Schulterwaffe, die mit beschleunigten Antimaterie-Impulsen arbeitete und besser erst eingesetzt wurde, wenn sich der Gegner nicht mehr auf dem gleichen Kontinent befand — in einen Ständer. Die Luftschiffdaten wurden unscharf und erloschen. Das Überwachungsschutzfeld um das Zelt hatte sie gelöscht. Khouri hob die frei gewordene Hand, warf das Monokel über den Helmrand nach hinten und strich sich mit der gleichen Bewegung eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Hier herein, Khouri.«
Man führte sie vorbei an Stockbetten, Verletzten und leise summenden Sanitäts-Servomaten, die wie grüne Schwäne ihre langen Hälse über die Patienten reckten, in einen abgeteilten Bereich an der Rückseite des Zelts. Draußen war das schrille Pfeifen von Düsenjägern zu hören, dann eine Reihe von Einschlägen, aber im Zelt nahm davon niemand Notiz.
Endlich stand sie in einem kleinen, quadratischen Raum mit einem einzigen Schreibtisch. An den Wänden hingen die transnationalen Fahnen der Nord-Koalition, und in einer Ecke des Schreibtischs stand auf einem Bronzesockel ein großer Globus von Sky’s Edge. Der Globus war auf geografische Darstellung geschaltet und zeigte nur die vielfältigen Landmassen und Geländetypen des Planeten, nicht die heiß umkämpften politischen Grenzen. Aber Khouri streifte ihn lediglich mit einem flüchtigen Blick, denn der Mann hinter dem Schreibtisch nahm ihre Aufmerksamkeit sofort gefangen. Er trug Paradeuniform: einen olivgrünen, zweireihig geknöpften Waffenrock mit goldenen Schulterstücken und einer beeindruckenden Kollektion von Orden und Medaillen der Nord-Koalition auf der Brust. Das glänzend schwarze Haar war glatt nach hinten gekämmt.
»Es tut mir Leid«, sagte Fazil, »dass es so kommen musste. Aber nachdem du jetzt hier bist…« Er streckte die Hand aus. »Nimm doch Platz; wir müssen miteinander reden. Ziemlich dringend sogar.«
In Khouri regte sich eine schwache Erinnerung. Sie sah einen Raum vor sich, einen Raum mit Metallwänden und einem Sitz. Die Erinnerung machte sie nervös — so als wäre jede Sekunde kostbar. Aber verglichen mit der Gegenwart, mit diesem Zelt mutete sie unwirklich an. Fazil schlug sie völlig in seinen Bann. Er sah noch fast genauso aus wie damals (Wo sollte das gewesen sein?), nur war seine Wange von einer Narbe gezeichnet, die ihr unbekannt war, und er hatte sich einen Schnurrbart zugelegt. Zumindest (sie war nicht ganz sicher) hatte er den Bart, den er bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte, irgendwie verändert; entweder trug er ihn jetzt dichter, oder er hatte die schwarzen Borsten so lang wachsen lassen, bis sich zu beiden Seiten seiner Oberlippe die ersten Ansätze verwegener Spitzen zeigten.
Sie folgte seiner Aufforderung und setzte sich auf einen Klappstuhl.
»Sie — die Mademoiselle — hatte schon befürchtet, dass dieser Fall eintreten könnte«, sagte Fazil. Die Lippen unter dem Schnurrbart bewegten sich kaum. »Deshalb hat sie Vorkehrungen getroffen und dir, als du noch auf Yellowstone warst, eine Reihe von geschlossenen Erinnerungsschleifen implantiert. Sie waren so markiert, dass sie sich nur dann aktivierten — und deinem Bewusstsein öffneten —, wenn sie es für angebracht hielt.« Er beugte sich über den Schreibtisch, stieß den Globus an und ließ ihn ein paar Mal rotieren, um ihn dann jählings anzuhalten. »Tatsächlich hat sie schon vor einiger Zeit damit begonnen, diese Erinnerungen freizusetzen. Erinnerst du dich an deinen leichten Migräneanfall im Fahrstuhl?«
Khouri tastete nach einem Rettungsanker; einer objektiven Realität, der sie vertrauen konnte.
»Wozu soll das gut sein?«
»Es ist ein Hilfsmittel«, sagte Fazil. »Zum Teil besteht es aus vorhandenen Erinnerungsstrukturen, die die Mademoiselle entnommen hatte und als brauchbar erachtete. Dieses Treffen zum Beispiel — zeigt es nicht Anklänge an unsere erste Begegnung, Liebling? Damals in der Einsatzzentrale auf Höhe Achtundsiebzig während des Krieges um die Zentralprovinzen, vor der zweiten Offensive gegen die rote Halbinsel? Man hatte dich zu mir geschickt, weil ich einen Agenten für eine Infiltration brauchte, der sich in den nicht abgeschirmten, vom Sicherheitsrat kontrollierten Sektoren auskannte. Waren wir nicht ein großartiges Team? In mehr als einer Beziehung.« Er strich sich den Schnurrbart, dann wies er wieder auf den Globus. »Natürlich habe ich — oder vielmehr sie — dich nicht nur hierher gebracht, um in Erinnerungen zu schwelgen. Nein, der Tatsache, dass auf diese Erinnerung zugegriffen wurde, entnehme ich, dass die Zeit reif ist für gewisse Offenbarungen. Die Frage ist nur, bist auch du dafür bereit?«