Wie er bald feststellte, waren die Pläne gleich geblieben.
Der Raum, in dem man ihn zurückließ, war nicht weniger spartanisch als seine Zelle, im Grunde ein Duplikat: Die gleichen leeren Wände, die gleiche Essensklappe, das gleiche beklemmende Gefühl, die Mauern seien unendlich dick und reichten unendlich tief in die Mesa hinein. Die Ähnlichkeit war so groß, dass er im ersten Moment zweifelte, ob ihn seine Sinne nicht getrogen hätten. Vielleicht hatten ihn die Wachen nur im Kreis herumgeführt und schließlich in sein Gefängnis zurückgebracht. Zuzutrauen war es ihnen durchaus… und wenigstens hätte es ihm Bewegung verschafft.
Doch als er sich eingehend umgesehen hatte, wusste er, dass dies nicht seine Zelle sein konnte. Pascale saß auf ihrem Bett — und als sie aufblickte, sah Sylveste, dass sie ebenso erstaunt war wie er.
»Sie haben eine Stunde Zeit«, sagte der Wärter mit dem Schnurrbart und klopfte seinem Partner auf die Schulter.
Dann schloss er die Tür. Sylveste war bereits ohne Aufforderung eingetreten.
Das letzte Mal hatte er sie im Hochzeitskleid gesehen; mit welligem, leuchtend rot gefärbtem Haar; von entoptischen Figuren umschwebt wie von einer Feenschar. Aber vielleicht hatte er das auch nur geträumt. Jetzt trug sie genau wie Sylveste einen graubraunen, ausgebeulten Overall. Das Haar war schwarz und hing ihr in Strähnen um das Gesicht, die Augen waren rot vor Müdigkeit oder von Schlägen, vielleicht auch beides. Sie wirkte kleiner und magerer, als er sie in Erinnerung hatte — vielleicht, weil sie vornüber gebeugt dasaß, die nackten Füße unter sich gezogen, und weil der weiße Raum so groß wirkte.
Sie erschien ihm schöner und zerbrechlicher als je zuvor; und nie war es ihm schwerer gefallen, sie als seine Frau zu betrachten. Er dachte zurück an die Nacht des Umsturzes, als sie geduldig in der Ausgrabungsstätte ausgeharrt und ihn mit ihren Fragen gelöchert hatte; Fragen, die später eine Wunde in sein Innerstes reißen sollten; Fragen, was er getan hatte und wozu er fähig war. Es war schon seltsam, wie der Strom der Ereignisse sie in der schrecklichen Einsamkeit dieser Zelle wieder zusammengeführt hatte.
»Man hat mir immer wieder versichert, du seiest am Leben«, sagte er. »Aber ich konnte es nie so recht glauben.«
»Mir sagte man, du seiest verletzt«, sagte Pascale. Sie sprach leise, als fürchte sie, mit lauten Worten den Traum zu zerstören. »Was passiert war, wollte man mir nicht verraten — und ich wagte nicht weiter zu fragen, aus Angst, die Wahrheit zu hören.«
»Ich wurde geblendet«, sagte Sylveste und berührte — zum ersten Mal seit der Operation — die harte Oberfläche seiner Augen. Die kleine Schmerz-Nova, an die er sich gewöhnt hatte, blieb aus, er spürte nur ein leises Unbehagen, eine Trübung, die sofort verschwand, als er die Finger wegnahm.
»Aber jetzt kannst du wieder sehen?«
»Ja. Und du bist eigentlich das Erste, wofür sich das auch lohnt.«
Sie stand vom Bett auf, schmiegte sich in seine Arme und legte ein Bein um das seine. Sie war so leicht und zart; er wagte kaum, die Umarmung zu erwidern, aus Angst, sie zu zerdrücken. Doch als er sie fester an sich zog, verstärkte auch sie den Druck, schien aber ihrerseits Angst zu haben, ihn zu verletzen. Wie zwei Geister, von denen jeder fürchtete, der andere sei nicht wirklich, hielten sie sich umschlungen. Die eine geschenkte Stunde kam ihnen vor wie eine Ewigkeit; nicht weil die Zeit sich hingeschleppt hätte, sondern weil sie in diesem Moment keine Rolle spielte. Sie stand sozusagen still, und es schien nur einer Willensanstrengung zu bedürfen, um sie auch weiter anzuhalten. Sylveste labte sich an Pascales Anblick wie ein Verdurstender; sie fand selbst in seinen starren Augen noch Menschlichkeit. Früher hatte sie nicht den Mut gefunden, ihn offen anzusehen, geschweige denn, ihm tief in die Augen zu schauen — aber das war lange her. Und Sylveste war es nie schwer gefallen, Pascale in die Augen zu blicken, denn sie brauchte nichts davon zu merken. Jetzt freilich wünschte er, sie würde spüren, wenn er sie anstarrte, damit er ihr auf diesem Umweg die beglückende Botschaft vermitteln könnte, wie betörend er sie fand.
Bald küssten sie sich voller Leidenschaft und fielen eng umschlungen auf das Bett. Im nächsten Moment hatten sie die graubraunen Mantell-Overalls abgestreift und auf den Boden geworfen. Sylveste fragte sich, ob sie beobachtet wurden. Möglich — sogar wahrscheinlich, dachte er. Aber er beschloss, sich nichts daraus zu machen. Für den Augenblick — bis zum Ende dieser Stunde — waren er und Pascale vollkommen allein; die Mauern waren wirklich unendlich dick; es gab im ganzen Universum nur diesen einen Raum. Sie liebten sich nicht zum ersten Mal, obwohl sie früher nur selten Gelegenheit dazu gehabt hatten; sie waren kaum jemals ungestört gewesen. Jetzt — die Vorstellung war fast lächerlich — waren sie Mann und Frau und hatten noch weniger Grund, sich zu verstecken. Und wieder mussten sie sich jeden intimen Augenblick stehlen. Er fühlte sich plötzlich schuldig und suchte lange nach einer Erklärung dafür. Erst als sie schließlich beieinander lagen und er den Kopf an ihrer weichen Brust vergrub, wurde ihm klar, warum er so empfand. Es gab so viel zu besprechen, und sie hatten die kostbare Zeit damit vergeudet, dem fieberhaften Verlangen ihrer Körper nachzugeben. Aber Sylveste erkannte auch, dass das so sein musste.
»Wenn es nur länger wäre«, sagte er, als sich sein Zeitgefühl wieder halbwegs normalisiert hatte und er sich fragte, wie viel von der Stunde wohl noch übrig war.
»Beim letzten Mal«, sagte Pascale, »hast du mir etwas erzählt.«
»Über Carine Lefevre, ja. Ich musste es dir sagen, verstehst du das? Es hört sich komisch an, aber ich dachte, ich müsste sterben. Deshalb musste ich dir, musste ich irgendjemandem sagen, was ich seit Jahren in meinem Inneren verschlossen hatte.«
Er spürte Pascales kühlen Schenkel auf dem seinen. Sie strich ihm mit der Hand über die Brust wie um sie sich einzuprägen. »Was da draußen geschehen ist, kann niemand beurteilen, auch ich nicht.«
»Ich war feige.«
»Nein. Es war nur dein Instinkt. Vergiss nicht, Dan, du warst am schrecklichsten Ort des ganzen Universums. Philip Lascaille ist ohne Schieber-Transform dorthin geflogen — und du weißt, was aus ihm geworden ist. Du hast genug Tapferkeit bewiesen, indem du bei Verstand geblieben bist. Die Flucht in den Wahnsinn wäre leichter gewesen.«
»Sie hätte überleben können. Verdammt, wenn ich sie nur da draußen allein zurückgelassen hätte — selbst das wäre vertretbar gewesen, wenn ich hinterher den Mut gefunden hätte, die Wahrheit zu sagen. Das wäre eine Art von Sühne gewesen. Aber dass ich noch Lügen über sie erzählte, nachdem ich sie getötet hatte, das hatte sie weiß Gott nicht verdient.«
»Nicht du hast sie getötet, sondern der Schleier.«
»Nicht einmal das weiß ich mit Sicherheit.«
»Wie?«
Er legte sich auf die Seite und sah sie an. Früher hätten seine Augen ihr Bild für die Nachwelt speichern können. Doch diese Funktion existierte nicht mehr.
»Ich meine«, sagte Sylveste, »ich weiß nicht einmal, ob sie da draußen tatsächlich gestorben ist — es müsste nicht unbedingt sofort gewesen sein. Ich habe schließlich überlebt — und ich war derjenige, dessen Schieber-Transform zerfiel. Sie hätte bessere Chancen gehabt, wenn auch nicht wesentlich. Aber wenn sie nun durchgekommen wäre, so wie ich? Wenn sie es irgendwie geschafft hätte zu überleben, aber keine Verbindung zu mir aufnehmen konnte? Bis ich wieder zu mir kam, war sie womöglich schon auf halbem Wege zum Schleierrand. Nachdem ich das Lichtschiff repariert hatte, dachte ich nicht mehr daran, nach ihr zu suchen. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass sie noch leben könnte.«
»Aus gutem Grund«, sagte Pascale. »Weil sie nämlich tot war. Du magst dein Verhalten jetzt in Frage stellen, aber damals sagte dir deine Intuition, dass sie tot war. Und wenn sie überlebt hätte — dann hätte sie auch eine Möglichkeit gefunden, sich bei dir zu melden.«