»Das weiß ich nicht. Und ich werde es nie erfahren.«
»Dann hör auf, dich damit zu quälen. Sonst kommst du von der Vergangenheit niemals los.«
»Hör zu«, sagte er. Eine von Falkenders Bemerkungen war ihm eingefallen. »Kannst du mit jemandem sprechen, abgesehen von den Wärtern? Mit Sluka oder ihren Anhängern vielleicht?«
»Wer ist Sluka?«
»Die Frau, die uns hier festhält.« Sylveste begriff mit einem gähnenden Gefühl der Leere, dass man ihr so gut wie nichts erzählt hatte. »Ich kann es dir nur in ganz einfachen Worten erklären, für mehr bleibt keine Zeit. Die Leute, die deinen Vater getötet haben, waren Fluter, Anhänger des Wahren Weges, soweit ich das sagen kann, oder jedenfalls eine Untergruppe dieser Bewegung. Wir sind in Mantell.«
»Ich wusste, dass wir außerhalb von Cuvier sein mussten.«
»Nach allem, was ich hörte, wurde Cuvier angegriffen.« Den Rest, dass der oberirdische Teil der Stadt wahrscheinlich so gut wie unbewohnbar war, behielt er für sich. Das brauchte sie nicht zu erfahren — jedenfalls nicht jetzt, schließlich war Cuvier der einzige Ort, wo sie je zu Hause gewesen war. »Ich weiß nicht genau, wer die Stadt zurzeit kontrolliert — loyale Anhänger deines Vaters oder eine rivalisierende Splittergruppe des Wahren Weges. Sluka erwähnte, dein Vater hätte sie nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen, nachdem er Cuvier damals an sich gebracht hatte. Das hat sie ihm offenbar so übel genommen, dass sie ihn schließlich ermorden ließ.«
»Wie kann man so nachtragend sein?«
»Sluka ist vermutlich nicht unbedingt der seelisch stabilste Mensch auf dem Planeten. Übrigens glaube ich nicht, dass sie auch unsere Gefangennahme geplant hatte — aber nun hat sie uns und weiß nicht so recht, was sie mit uns anfangen soll. Wir könnten noch wertvoll werden, deshalb kann sie uns nicht einfach um die Ecke bringen lassen… doch bis dahin…« Sylveste hielt inne. »Jedenfalls könnte sich bald eine Veränderung ergeben. Von dem Mann, der meine Augen repariert hat, weiß ich, dass Gerüchte über Besucher im Umlauf sind.«
»Was für Besucher?«
»Das habe ich auch gefragt. Aber er hat mir nicht mehr verraten.«
»Man könnte gewisse Vermutungen anstellen, nicht wahr?«
»Wenn irgendetwas die Lage auf Resurgam verändern könnte, dann die Ankunft von Ultras.«
»Für Remilliod ist es noch etwas zu früh.«
Sylveste nickte. »Wenn wirklich ein Schiff im Anflug ist, dann kannst du darauf wetten, dass es nicht Remilliod ist. Aber wer könnte sonst mit uns Geschäfte machen wollen?«
»Vielleicht geht es ja gar nicht um Geschäfte.«
Es mochte ein Zeichen von Arroganz sein, aber für Volyova war es physisch unerträglich, jemand anderem ihre Arbeit zu überlassen, wie absurd die Alternative auch sein mochte. So war sie ganz zufrieden damit — falls das der richtige Ausdruck war —, dass Khouri im Leitstand saß und sich nach Kräften bemühte, das Weltraumgeschütz vom Himmel zu schießen. Sie gab auch ohne weiteres zu, dass sie nur mit Khouri überhaupt eine vernünftige Chance hatte. Aber deshalb war sie noch lange nicht bereit, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, wie die Sache ausging. Volyova wusste genau, dass sie das nicht aushalten würde. Was sie brauchte — wonach sie gierte — war eine Idee, um das Problem von einer anderen Seite her anzugehen.
»Svinoi«, fluchte sie, denn so angestrengt sie auch überlegte, die Erleuchtung wollte nicht kommen. Jedes Mal, wenn sie glaubte, einen Ansatzpunkt, einen Weg gefunden zu haben, das Geschütz aufzuhalten, waren ihre Gedanken bereits vorausgeeilt und hatten irgendwo einen logischen Fehler in der Argumentationskette gefunden. Einerseits war es ein Beweis für ihre geistige Flexibilität, dass sie imstande war, ihre eigenen Lösungen zu hinterfragen, sobald sie ihr bewusst wurden, ja, beinahe noch vorher. Andererseits konnte sie sich — es war zum Verrücktwerden — des Eindrucks nicht erwehren, dass sie alles tat, um ihre eigenen Erfolgschancen zu sabotieren.
Und jetzt musste sie sich auch noch mit dieser Anomalie befassen.
Sie hatte sich für diese Bezeichnung entschieden, weil sie die ganze Mischung aus Unverständnis und Empörung ausdrückte, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie sich zwang, sich mit dem Thema zu konfrontieren. Das Thema war, was in Khouris Kopf vorging. Und da Khouri jetzt in die abstrakte Geisteslandschaft des Waffenraums abgetaucht war, schloss die Anomalie zwangsläufig den Leitstand und damit auch Volyova mit ein, die ihn schließlich eingerichtet hatte. Sie konnte die Situation über die Neuralanzeigen an ihrem Armband genau überwachen. Kein Zweifel, im Schädel ihres Waffenoffiziers tobte ein heftiger Sturm. Und dieser Sturm streckte bereits die ersten, unruhigen Fühler in den Waffenraum aus.
Volyova wusste, dass die einzelnen Teile irgendwie zusammenhingen. Die Probleme mit dem Leitstand, beginnend mit Nagornys Wahnsinn, die Sonnendieb-Geschichte und später die Selbstaktivierung des Weltraumgeschützes. Auch der Sturm in Khouris Kopf — die Anomalie — gehörte dazu. Aber zu wissen, dass eine Lösung oder zumindest eine Antwort existierte — ein Gesamtbild, das alles erklärte —, half ihr keinen einzigen Schritt weiter.
Vielleicht am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie selbst sich von dem Problem ablenken ließ, anstatt sich ausschließlich der unmittelbaren Krise zu widmen, die doch viel dringender war. Volyova kam sich vor, als habe sie eine frühreife Schulklasse in ihrem Kopf: jedes einzelne Kind war hochintelligent und gemeinsam wären sie zu überwältigenden Leistungen fähig — sie bräuchten sich nur zusammenzutun. Aber einige Schüler passten nicht auf; sie schauten verträumt aus dem Fenster und überhörten ihre Ermahnungen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, weil sie ihre eigenen fixen Ideen anregender fanden als den langweiligen Lehrplan, den sie ihnen unbedingt vorkauen wollte.
Ein Gedanke drängte sich vor; eine Erinnerung. Sie bezog sich auf eine Reihe von Firewall-Systemen, die sie vor mehr als vier Jahrzehnten Schiffszeit installiert hatte, eine Art letzter Bastion, um im Notfall ein Eindringen zerstörerischer Viren zu verhindern. Sie hätte nie gedacht, dass sie jemals zum Einsatz kommen würden, schon gar nicht unter solchen Umständen.
Immerhin erinnerte sie sich daran.
»Volyova«, keuchte sie in ihr Armband und bemühte sich, ihrem Gedächtnis die einschlägigen Befehle zu entreißen. »Anti-Guerilla-Protokolle aufrufen; Schweregrad Lambda-Plus, maximale Kampfbereitschaft, Einwilligung und Zweitkontrolle als erfolgt voraussetzen, Verweigerungsunterdrückung auf volle Autonomie, Armageddon-Defaults Stufe Neun, Sicherungs-Übersteuerung Rot Eins Alpha, Privilegien des Triumvirates auf allen Ebenen in Kraft setzen; Privilegien für Nichtangehörige des Triumvirats aufheben.« Sie holte Atem und hoffte, sich mit dieser Kette von Beschwörungen genügend Türen ins Herz der Schiffsmatrix geöffnet zu haben. »Und jetzt«, sagte sie: »Programm Code Palsy suchen und starten.« Leise fügte sie hinzu: »Und mach schnell, verdammt noch mal!«
Palsy war das Programm zur Schließung der Firewalls, die sie eingerichtet hatte. Sie hatte es selbst geschrieben — aber das war so lange her, dass sie kaum noch wusste, wozu es gut war und wie viele Bereiche des Schiffes es vermutlich beeinflussen würde. Es war ein Risiko — sie wollte so viel lahm legen, um das Weltraumgeschütz zu behindern, aber natürlich nicht so viel, dass sie sich selbst damit blockierte.
»Svinoi, Svinoi, Svinoi…«
Über ihr Armband liefen Fehlermeldungen, die ihr freundlicherweise mitteilten, verschiedene Systeme, die Palsy aufzurufen und außer Kraft zu setzen versuchte, seien dem Zugriff des Programms inzwischen entzogen; es habe keine Zugangsberechtigung mehr. Gesperrt waren die meisten Schiffssysteme insbesondere auf den tieferen Ebenen. Hätte Palsy richtig funktioniert, dann wäre die Wirkung auf das Schiff gewesen wie ein Schlag auf den Kopf eines Menschen — sofortige Abschaltung aller nicht lebenswichtigen Systeme, allgemeiner Zusammenbruch und eine Art Heilschlaf. Es hätte schwere Schäden angerichtet, aber hauptsächlich auf oberflächlichem Niveau und von einer Art, die Volyova hätte reparieren oder kaschieren oder für die sie Ausreden hätte erfinden können, bevor die anderen Besatzungsmitglieder erwachten. Aber Palsy hatte anders gewirkt. Das Schiff hatte, um beim Vergleich mit einer menschlichen Erkrankung zu bleiben, eher einen leichten Schlaganfall erlitten, der lediglich die äußeren Hautschichten lahmte und auch die nur zum Teil. Das passte ganz und gar nicht in Volyovas Pläne.