Zum Ausgleich waren nun sicher die autonomen Waffen an der Außenhülle blockiert, die nicht direkt vom Leitstand aus gesteuert wurden und bereits das Shuttle gesprengt hatten. Jetzt konnte sie wenigstens diesen Schachzug noch einmal wiederholen. Natürlich war das Geschütz jetzt weiter entfernt; man konnte ihm nicht mehr so einfach den Weg versperren. Aber wenn es ihr wenigstens gelänge, ein zweites Shuttle im All auszusetzen, eröffneten sich damit ganz neue Möglichkeiten.
Sekunden später war ihr Optimismus zu traurigen Krümeln zerfallen. Vielleicht war die Wirkung beabsichtigt, vielleicht waren in den vergangenen vierzig Jahren auch verschiedene Schiffssysteme durcheinander geraten und hatten neue Verbindungen gebildet, so dass Palsy Teile abschaltete, mit denen es eigentlich niemals hätte in Kontakt kommen dürfen… wie auch immer, die Shuttles funktionierten nicht, sie waren durch Firewalls abgeschüttet. Nur halbherzig probierte sie die Übersteuerungsbefehle für Angehörige des Triumvirates, aber nichts geschah. Kein Wunder: Palsy hatte die Befehlsstrukturen brutal unterbrochen und Gräben aufgerissen, die mit Software-Interventionen nicht zu überbrücken waren. Um die Shuttles wieder online zu bringen, musste Volyova jeden einzelnen dieser Gräben manuell rückgängig machen — und dazu musste sie erst die Karte der Anschlüsse finden, die sie vor vier Jahrzehnten angelegt hatte. Nach vorsichtiger Schätzung eine Arbeit von mehreren Tagen.
Und ihr standen nur wenige Minuten zur Verfügung.
Sie stürzte — nicht in ein tiefes seelisches Loch, sondern in einen bodenlosen Gravitationsschacht. Erst ziemlich weit unten — von den kostbaren Minuten waren schon etliche vergangen — fiel ihr etwas ein, eine so nahe liegende Lösung, dass sie schon längst darauf hätte kommen müssen.
Und Volyova rannte los.
Khouri wurde unsanft in den Leitstand zurückgeschleudert.
Ein schneller Blick auf die Status-Uhren bestätigte, was Fazil ihr versprochen hatte: in Echtzeit war keine einzige Sekunde vergangen. Ein toller Trick; sie hatte ganz deutlich das Gefühl, fast eine Stunde im Zelt verbracht zu haben, dabei war die ganze Episode erst einen Sekundenbruchteil zuvor geplant worden. In Wirklichkeit hatte sie nichts erlebt, es war kaum zu fassen. Zum Aufatmen blieb dennoch keine Zeit — schon bevor die Erinnerungsschleife aktiviert worden war, hatten sich die Ereignisse überstürzt. Seither hatte die Situation nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüßt.
Das Weltraumgeschütz musste unmittelbar vor der Detonation stehen: die Schwerkraftemissionen waren vom Schiff aus nicht mehr zu orten — wie bei einer Trillerpfeife, die in den Ultraschallbereich eingetreten war. Oder war die Waffe vielleicht schon abschussbereit und die Mademoiselle zögerte noch? Ob sie so großen Wert darauf legte, Khouri auf ihrer Seite zu haben? Wenn das Geschütz versagte, wäre sie wieder das einzige Instrument.
»Geben Sie auf«, mahnte die Mademoiselle. »Geben Sie auf, Khouri. Sie müssen doch einsehen, dass Sonnendieb eine fremde Intelligenz ist! Und Sie unterstützen ihn!«
Khouri hatte kaum noch die Kraft, in Gedanken eine Antwort zu formulieren.
»Ich glaube durchaus, dass er uns fremd ist. Die Frage ist nur, wie ich Sie einzustufen habe.«
»Khouri, dafür ist jetzt wirklich keine Zeit!«
»Bedauere, aber ich finde, gerade jetzt sollten wir die Karten auf den Tisch legen.« Während Khouri ihre Gedanken übermittelte, führte sie den Kampf auf ihrer Seite weiter, obwohl ein Teil von ihr — der Teil, der überzeugt worden war von dem, was sie gesehen hatte — sie anflehte, doch aufzugeben und der Mademoiselle die Kontrolle über das Geschütz zu überlassen. »Sie wollten mir einreden, Sylveste habe Sonnendieb von den Schleierwebern mitgebracht.«
»Nein; ich habe Ihnen nur die Fakten gezeigt, und Sie haben daraus den einzig logischen Schluss gezogen.«
»Den Teufel habe ich getan.« Khouri entwickelte neue Kräfte, aber sie reichten noch immer nicht aus, um die Entscheidung herbeizuführen. »Sie hatten es die ganze Zeit schon darauf angelegt, mich gegen Sonnendieb einzunehmen. Das mag gerechtfertigt sein oder auch nicht — vielleicht ist er wirklich ein übles Schwein —, aber es wirft doch eine Frage auf. Woher wollen Sie das alles wissen? Sie können es gar nicht wissen. Es sei denn, Sie wären selbst ein Alien.«
»Nehmen wir — bis auf weiteres — an, das wäre der Fall…«
Khouri wurde abgelenkt. Etwas Neues war aufgetaucht, etwas von solcher Wichtigkeit, dass es den Kampf für einen Moment in den Hintergrund treten ließ. Sie entspannte sich und zog einen weiteren Teil ihres Bewusstseins ab, um die Situation zu taxieren.
Noch etwas stürzte sich ins Kampfgetümmel.
Der Neuankömmling befand sich nicht im Waffenraum und er war auch keine cybernetische Entität, sondern ein reales Gebilde, das bisher nicht — oder allenfalls unbemerkt — in der Arena präsent gewesen war. Als Khouri es entdeckte, war es dem Lichtschiff sehr nahe; gefährlich nahe für ihre Begriffe — es hatte sich daran festgesaugt wie ein Parasit.
Das Ding hatte die Größe eines sehr kleinen Raumschiffs. Es maß vom Bug bis zum Heck nicht mehr als zehn Meter. Von der Form her war es ein dicker, gerippter Torpedo, der mit acht gegliederten Beinen über den Schiffsrumpf spazierte. Wie durch ein Wunder wurde er nicht von denselben Verteidigungswaffen beschossen, die das Shuttle zerstört hatten.
»Ilia…«, hauchte Khouri. »Ilia, Sie wollen doch nicht ernsthaft…« Und gleich darauf: »Scheiße, genau das war Ihre Idee!«
»Was für eine Torheit«, bemerkte die Mademoiselle.
Der Spinnenraum hatte sich mit allen acht Beinen gleichzeitig vom Rumpf gelöst. Da das Schiff immer noch abbremste, wurde er scheinbar mit zunehmender Geschwindigkeit nach vorne gezogen. Normalerweise, hatte Volyova gesagt, müsste er in diesem Moment seine Greifer abschießen, um die Verbindung mit dem Schiff wiederherzustellen. Aber sie hatte wohl den Mechanismus abgeschaltet, denn der Spinnenraum stürzte weiter, bis seine Triebwerke ansprangen. Khouri beobachtete die Szene in verschiedenen Medien, darunter einigen, die ihr ohne die Waffenraum-Implantate nicht zugänglich gewesen wären, doch ein kleiner Teil des sensorischen Stroms wurde optisch von den Außenkameras des Schiffs übertragen. So konnte sie verfolgen, wie die Triebwerke violett aufglühten, wie aus den Öffnungen im mittleren Bereich, wo der torpedoförmige Rumpf mit dem Türmchen und den jetzt nutzlosen Beinen verbunden war, in rascher Folge nadelfeine Blitze zuckten und die Beine von unten erleuchteten. Der Sturz wurde abgebremst und die Gegenbewegung eingeleitet. Der Spinnenraum setzte sich wieder neben das Schiff. Aber Volyova brachte ihn nicht so nahe heran, dass sie die Greifer hätte einsetzen können. Nach wenigen Sekunden entfernte er sich seitwärts, beschleunigte und strebte auf das Geschütz zu.
»Ilia… ich finde wirklich nicht…«
»Vertrauen Sie mir.« Die Stimme des Triumvirs drang in den Waffenraum, als käme sie vom anderen Ende des Universums, dabei war Volyova nur wenige Kilometer entfernt. »Mit etwas gutem Willen könnte man sagen, ich habe einen Plan. Zumindest ist es eine Möglichkeit, kämpfend unterzugehen.«