»Es gibt aber keinen, also finden Sie sich damit ab.«
»Schön. Ich habe für eine andere Crew gearbeitet. Die Namen kenne ich nicht — es kam nie zu einem direkten Kontakt —, aber diese Crew versucht schon seit längerem Ihre Weltraumgeschütze in die Hand zu bekommen.«
Volyova schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Niemand weiß von den Geschützen.«
»Das hätten Sie wohl gerne. Aber Sie haben einzelne Waffen eingesetzt, richtig? Dabei muss es Überlebende, Zeugen gegeben haben, von denen Sie nichts wussten. Mit der Zeit hat sich herumgesprochen, dass Sie auf Ihrem Schiff wirklich harte Sachen mitführen. Vielleicht kannte niemand die ganze Geschichte, aber meine Gruppe wusste jedenfalls genug, um ein Stück von diesem Kuchen abhaben zu wollen.«
Volyova schwieg. Khouris Erklärung traf sie wie ein Schock — als hätte sie erfahren, dass alle Welt über ihre intimsten Gewohnheiten Bescheid wusste. Aber sie musste zugeben, dass sie nicht völlig von der Hand zu weisen war. Natürlich konnte etwas durchgesickert sein. Schließlich hatten etliche Besatzungsmitglieder — nicht in jedem Fall freiwillig — das Schiff verlassen. Von den Betreffenden hatte zwar eigentlich niemand Zugang zu vertraulichen Informationen — schon gar nicht über den Geschützpark — gehabt, dennoch ließ sich ein Versehen nie ganz ausschließen. Vielleicht hatte es beim Einsatz eines der Geschütze auch tatsächlich überlebende Zeugen gegeben, und die hatten die Information weitergetragen.
»Diese andere Besatzung — auch wenn Sie den Namen der Leute nicht kennen, wissen Sie denn wenigstens, wie das Schiff hieß?«
»…nein. So unvorsichtig waren sie nicht. Sonst hätten sie mir doch auch gleich direkt sagen können, wer sie sind, oder?«
»Was wussten Sie dann überhaupt? Wie wollte man uns die Geschütze denn abnehmen?«
»Da kommt Sonnendieb ins Spiel. Sonnendieb ist ein militärisches Virus, das man bei Ihrem letzten Aufenthalt im Yellowstone-System eingeschleust hat. Ein hochentwickeltes, ausnehmend anpassungsfähiges Infiltrationsprogramm, dessen Spezialität es ist, in gegnerische Systeme einzudringen, einen psychologischen Krieg gegen deren Besitzer zu führen und sie durch Manipulation des Unterbewusstseins in den Wahnsinn zu treiben.« Khouri legte eine Pause ein, um Volyova Zeit zu geben, das zu verarbeiten. »Aber Ihre Abwehr war zu gut. Sonnendieb wurde geschwächt, und so konnte die Strategie nicht richtig aufgehen. Also wartete man ab. Die nächste Chance bot sich erst, als Sie fast hundert Jahre später wieder ins Yellowstone-System kamen. Diesmal wählte man eine andere Strategie: ein menschlicher Infiltrator sollte an Bord. Ich.«
»Wie gelangte das erste Virus in unsere Systeme?«
»Über Sylveste. Die fremde Besatzung wusste, dass Sie ihn an Bord holen wollten, um Ihren Captain zu heilen. Sie unterschob ihm die Software, ohne dass er etwas davon ahnte, und als er bei der Behandlung des Captains mit Ihrem medizinischen Zentrum verbunden war, infizierte sie Ihre Systeme.«
Die Erklärung war einleuchtend, dachte Volyova, und gab damit Anlass zu tiefer Besorgnis. Andere Crews waren also ebenso raubgierig wie man selbst. Welch ungeheure Arroganz, einfach davon auszugehen, List und Tücke seien ein Privileg von Sajakis Triumvirat.
»Und was war Ihre Aufgabe?«
»Festzustellen, inwieweit Sonnendieb die Systeme im Leitstand unterwandert hatte. Wenn möglich, das Schiff unter meine Kontrolle zu bringen. Bei einer Machtübernahme hätte es außer vielleicht einigen Kolonisten keine Zeugen gegeben.« Khouri seufzte. »Aber glauben Sie mir, der Plan ist endgültig und für alle Zeiten vom Tisch. Das Sonnendieb-Programm hatte Fehler; es war zu gefährlich, zu anpassungsfähig. Es erregte zu viel Aufmerksamkeit, als es Nagorny in den Wahnsinn trieb — andererseits war er der Einzige, an den es herankam. Als es dann auch noch selbst im Geschützpark herumpfuschte…«
»Das Geschütz, das sich selbständig machte.«
»Ja. Das war auch mir nicht mehr geheuer.« Khouri fröstelte. »Von da an wusste ich, dass Sonnendieb zu mächtig geworden war. Ich konnte ihn nicht mehr kontrollieren.«
In den nächsten Tagen stellte Volyova weitere Fragen, um Khouris Geschichte von verschiedenen Seiten zu überprüfen und an den wenigen bekannten Fakten zu messen. Sonnendieb könnte tatsächlich ein Infiltrationsprogramm gewesen sein… auch wenn sie in ihrer jahrelangen Erfahrung noch keine Software von so heimtückischer Raffinesse kennen gelernt hatte. Aber konnte sie die Erklärung deshalb so ohne weiteres verwerfen? Nein; natürlich nicht. Immerhin wusste sie ja, dass das Ding existierte. Khouris Interpretation war die erste, die auch objektiv vernünftig klang. Sie erklärte, warum alle Versuche, Nagorny zu heilen, gescheitert waren. Nicht eine unvorhersehbare Kombination von Nebenwirkungen ihrer Leitstandsimplantate hatte ihn in den Wahnsinn getrieben, sondern schlicht und einfach eine Entität, die genau zu diesem Zweck geschaffen worden war. Kein Wunder, dass es ihr so schwer gefallen war, Nagornys Probleme zu verstehen. Ungelöst blieb natürlich die hartnäckige Frage, warum sich Nagornys Wahn so stark und gerade in dieser Form geäußert hatte — die hektisch hingekritzelten, beklemmenden Vogelgestalten, die Muster auf seinem Sarg —, aber wer wusste, ob Sonnendieb nicht einfach eine schon bestehende Psychose verstärkt hatte, weil es leichter war, Nagornys Unterbewusstsein mit seinen eigenen Bildern arbeiten zu lassen?
Auch die mysteriöse feindliche Besatzung ließ sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. An Bord gab es Unterlagen, die bewiesen, dass ein zweites Lichtschiff — die Galatea — bei den beiden letzten Besuchen der Sehnsucht nach Unendlichkeit zur gleichen Zeit im Yellowstone-System gewesen war. Ob das die Crew war, die Khouri an Bord geschleust hatte?
Im Moment war diese Erklärung so gut wie jede andere. Und eins stand vollkommen fest. Khouri hatte Recht, der Rest des Triumvirats durfte von diesen Dingen nichts erfahren. Sajaki würde Volyova tatsächlich beschuldigen, die Sicherheit des Schiffes aufs Schwerste gefährdet zu haben. Bestrafen würde er natürlich Khouri — aber auch Volyova musste mit irgendeiner Form von Vergeltung rechnen. So angespannt, wie ihr Verhältnis in letzter Zeit war, mochte es durchaus sein, dass Sajaki sie zu töten versuchte. Vielleicht gelang es ihm sogar — er war mindestens so stark wie Volyova. Dass er damit seinen besten Waffenexperten und die einzige Person verlöre, die sich halbwegs mit dem Geschützpark auskannte, würde ihn nicht weiter stören. Seine Begründung wäre zweifellos, sie hätte ihre Unfähigkeit auf diesem Gebiet zur Genüge bewiesen. Aber da war noch ein dritter Punkt, den Volyova nicht gänzlich außer Acht lassen konnte. Was immer wirklich hinter dem Geschütz passiert sein mochte, Volyova konnte nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass Khouri ihr das Leben gerettet hatte.
So verhasst ihr die Vorstellung auch sein mochte, sie war dem Infiltrator verpflichtet.
Bei nüchterner Betrachtung der Situation gab es nur eine Möglichkeit: sie musste so tun, als wäre nichts geschehen. Khouris Auftrag hatte sich mit Sicherheit erledigt; sie würde nicht mehr den Versuch machen, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Die verborgenen Motive, aus denen sie an Bord gekommen war, gefährdeten nicht den Plan, Sylveste ein zweites Mal auf das Schiff zu holen, außerdem war Khouri als Besatzungsmitglied inzwischen fast unentbehrlich geworden. Nachdem Volyova jetzt die Wahrheit kannte und Khouri ihr ursprüngliches Ziel nicht weiter verfolgen konnte, würde sie sich sicher nach Kräften bemühen, die ihr zugewiesene Position auszufüllen. Ob die Loyalitätsbehandlung angeschlagen hatte, spielte kaum noch eine Rolle: Khouri musste in jedem Fall so tun als ob, und irgendwann wären Sein und Schein nicht mehr voneinander zu trennen. Womöglich wollte sie das Schiff dann gar nicht mehr bei erster Gelegenheit verlassen. Es gab immerhin schlechtere Alternativen. So könnte sie über Monate oder Jahre subjektiver Zeit wahrhaftig zu einem Teil der Besatzung werden und ihr anfängliches Doppelspiel bliebe ihr und Volyovas Geheimnis und geriete früher oder später sogar bei Volyova in Vergessenheit.