»Sudjic? Kjarval?«
Stille. Sie konnte nicht einmal ihre eigene Stimme richtig hören und schon gar nichts, was als Antwort zu werten wäre. Jetzt sah sie, dass die Funkverbindung zwischen den Anzügen gestört war — ein Punkt im Schadensbericht, den sie bisher übersehen hatte. Schlimm, Khouri. Sehr schlimm.
Sie hatte keine Vorstellung davon, wer der Feind war.
Der beschädigte Arm des Anzugs reparierte sich in Sekundenschnelle. Die verbrannten Teile sanken zu Boden, die Außenhülle schob sich nach vorne und umschloss den Stumpf. Khouri fand den Anblick abscheulich, obwohl sie dergleichen in Simulations-Szenarien auf Sky’s Edge oft genug gesehen hatte. Wirklich übel wurde ihr allerdings bei dem Gedanken, dass eine solche Schnellreparatur für ihre eigenen Verletzungen nicht möglich war; sie musste warten, bis die Verwundeten aus der Kampfzone evakuiert wurden.
Jetzt bewegte sich der Anzug mit den weniger schweren Schäden und kam ebenfalls auf die Beine. Er hatte noch alle Gliedmaßen und viele seiner Waffen waren ausgefahren und hingen aus verschiedenen Öffnungen. Die richteten sich nun auf Khouri wie ein Dutzend stoßbereite Vipern.
»Wer bist du?«, fragte sie, doch dann fiel ihr wieder ein, dass die Funkverbindung vermutlich auf Dauer unterbrochen war. Aus dem Augenwinkel sah sie von der Seite zwei weitere Anzüge aus den trägen, pechschwarzen Rauchwolken auftauchen. Wer mochte das sein? Reste der drei Fremdanzüge, die mit den Wolfshunden gekommen waren, oder ihre Kampfgefährtinnen?
Der Anzug mit den Waffen näherte sich so langsam, als sei sie eine Bombe, die jeden Moment losgehen konnte. Dann blieb er reglos stehen. Seine Außenhaut versuchte mit mäßigem Erfolg, sich den Farben der Wand im Hintergrund und der Rauchwolken anzupassen. Wie mochte ihr eigener Anzug aussehen, dachte Khouri. War die Sichtscheibe durchsichtig oder nicht? Von innen war es nicht zu erkennen und die auf ein Minimum reduzierten Anzeigen gaben darüber keine Auskunft. Wenn der Anzug mit den Waffen ein menschliches Gesicht entdeckte, würde er dann schießen oder das Feuer einstellen? Khouri hatte alles darauf gerichtet, was von ihren Waffen noch zu gebrauchen war, aber sie wusste noch immer nicht, ob sie den Feind oder einen stummen Kameraden bedrohte.
Sie wollte den unverletzten Arm heben und auf ihr Gesicht deuten, eine Aufforderung an ihr Gegenüber, seine Sichtscheibe transparent zu machen.
Der Anzug schoss.
Khouri wurde abermals wie von einer unsichtbaren Ramme zurückgeschleudert und krachte gegen die Wand. Ihr Anzug begann zu schreien, sinnloses Gefasel rollte durch ihr Blickfeld. Bevor sie mit der Wand kollidierte, hörte sie einen ohrenbetäubenden Schlag, der komprimierte Schall der hektischen Schüsse aus ihren eigenen noch einsatzfähigen Waffen.
Scheiße, dachte Khouri. Das tat weh, und man spürte aus dem Bauch heraus, dass das keine Simulation mehr sein konnte.
Wieder kämpfte sie sich hoch. Im gleichen Augenblick raste eine zweite Salve des Angreifers an ihr vorbei und eine dritte traf ihren Oberschenkel. Sie taumelte nach hinten und sah sich selbst aus dem Augenwinkel mit den Armen rudern. Mit ihren Armen stimmte etwas nicht; genauer gesagt, etwas war in Ordnung, was nicht in Ordnung sein durfte. Sie waren vollkommen unversehrt; nichts deutete darauf hin, dass ihr der eine soeben abgeschossen worden war.
»Scheiße«, sagte sie. »Verdammt, was ist hier eigentlich los?«
Der andere Anzug ließ nicht locker, jeder Schuss traf und trieb sie weiter zurück.
»Hier Volyova«, ertönte eine Stimme, die alles andere als ruhig und gelassen klang. »Alles herhören! Das Szenarium läuft nicht so, wie es soll! Jeder stellt sofort das Feuer ein…«
Khouri war wieder auf das Deck gestürzt, diesmal mit solcher Wucht, dass sie den Aufprall trotz des Luftgel-Kissens im Rücken spürte. Ihr Schenkel fühlte sich an, als sei er verletzt, und der Anzug tat nichts, um den Schmerz zu lindern.
Wir sind in die Wirklichkeit übergewechselt, dachte sie.
Der Beschuss war jetzt echt; jedenfalls von dem Anzug, der sie angriff.
»Kjarval«, sagte Volyova. »Kjarval! Hören Sie auf zu schießen! Sie bringen Khouri noch um!«
Aber Kjarval — Khouri erriet, dass sie der Angreifer war — hörte nicht, vielleicht konnte sie auch nicht hören oder, noch schlimmer, sie konnte das Feuer nicht mehr einstellen.
»Kjarval«, mahnte der Triumvir. »Wenn Sie nicht aufhören, muss ich Sie entwaffnen!«
Aber Kjarval war nicht zu halten. Sie schoss immer weiter. Khouri spürte jeden Treffer wie einen Peitschenschlag. Sie krümmte sich zusammen und versuchte mit letzter Kraft, aus der Hölle dieses Metallsaals zu kriechen und sich in Sicherheit zu bringen.
Und dann kam Volyova von oben herab. Sie hatte sich offenbar die ganze Zeit unsichtbar im Zentrum aufgehalten. Noch im Sinkflug eröffnete sie das Feuer auf Kjarval, zuerst mit den leichten Waffen, dann mit immer schwereren Geschützen. Kjarval wehrte sich und richtete einen Teil ihrer Schüsse nach oben. Volyova wurde getroffen, ihr Schutzpanzer bekam schwarze Schrammen, aus der flexiblen Hülle wurden Splitter gerissen und die Waffen, die ihr Anzug ausfahren und einsetzen wollte, wurden einfach weggefegt. Aber sie ließ nicht locker. Kjarvals Anzug sank in sich zusammen und wurde undicht. Die Waffen schossen wild durcheinander, verfehlten das Ziel und feuerten schließlich blindlings durch den Raum.
Irgendwann — wahrscheinlich war nicht mehr als eine Minute vergangen, seit sie das Feuer auf Khouri eröffnet hatte — fiel Kjarval zu Boden. Wo ihr Anzug nicht von Treffern geschwärzt war, erinnerte er an ein Schlachtfeld aus sich bekämpfenden psychedelischen Farben und rasant wechselnden, hypergeometrischen Strukturen. Halb realisierte Waffen und Instrumente sprießten aus allen Öffnungen. Die Gliedmaßen schlugen wie wild um sich. Aus ihren Enden schossen unaufhörlich die verschiedensten Manipulatoren und primitive, babygroße, menschenhandähnliche Gebilde, die ihrerseits Knospen trieben.
Khouri stand auf und musste einen Aufschrei unterdrücken. Ihr Schenkel hatte die Bewegung sehr übel genommen. Der Anzug hing steif an ihr, ein totes Gewicht, aber sie schaffte es irgendwie, sich bis zu der Stelle zu schleppen, wo Kjarval lag.
Volyova und ein zweiter Anzug — es musste Sudjic sein — waren bereits bei ihr, beugten sich über den zerstörten Anzug und versuchten, die medizinischen Diagnoseanzeigen zu lesen.
»Sie ist tot«, sagte Volyova.
Vierzehn
Mantell, Nord-Nekhebet,
Resurgam
2566
An dem Tag, an dem sich die Besucher endlich vorstellten, wurde Sylveste von einem Dolchstoß aus gnadenlos grell-weißem Licht geweckt. Er hob flehentlich die Arme, bis seine Augen die Initialisierungsprogramme durchlaufen hatten. Sluka sah offenbar ein, dass es praktisch sinnlos war, in dieser Situation mit ihm reden zu wollen. Seit seine Augen so viele ihrer ursprünglichen Funktionen eingebüßt hatten, brauchten sie länger denn je, um überhaupt in Gang zu kommen. Sylveste musste eine lange Liste von Fehlermeldungen und Warnungen und ein Feuerwerk von geisterhaften Nadelstichen über sich ergehen lassen, während die Augen Betriebsarten mit schweren Ausfallerscheinungen austesteten.