So nahm er nur undeutlich wahr, dass Pascale aufrecht neben ihm im Bett saß und sich die Decke vor die Brust hielt.
»Sie müssen aufstehen«, sagte Sluka. »Alle beide. Ich warte draußen, bis Sie sich angezogen haben.«
Hastig fuhren sie in ihre Kleider. Sluka stand geduldig mit zwei Wärtern vor dem Zimmer, die keine sichtbaren Waffen trugen. Sylveste und seine Frau wurden in den Gemeinschaftsraum von Mantell geführt, wo sich die Morgenschicht der Fluter des Wahren Weges um einen rechteckigen Wandschirm versammelt hatte. Thermosflaschen mit Kaffee und Frühstücksrationen standen unberührt auf dem Tisch. Was immer geschehen war, dachte Sylveste, hatte offenbar jedem normalen Menschen den Appetit verdorben. Der Schlüssel war wohl auf dem Schirm zu finden. Sylveste hörte eine Stimme, hart und künstlich verstärkt wie aus einem Lautsprecher. Doch die Gespräche im Raum waren so laut, dass er nur hin und wieder ein Wort verstand. Leider war dieses Wort fast immer sein eigener Name. Wer immer da vom Schirm herunter donnerte, gebrauchte ihn nur allzu häufig.
Als er sich nach vorn drängte, fiel ihm auf, dass ihm die Zuschauer mit mehr Respekt Platz machten, als er seit Jahrzehnten erfahren hatte. Oder war es vielleicht nur Mitleid für einen Todeskandidaten?
Pascale trat zu ihm. »Erkennst du diese Frau?«, fragte sie.
»Welche Frau?«
»Auf dem Schirm. Vor dem du gerade stehst.«
Sylveste sah nur ein pointillistisches Oval aus silbergrauen Pixels.
»Ich kann mit Videobildern nicht allzu viel anfangen«, erklärte er, ebenso an Sluka wie an Pascale gewandt. »Und hören kann ich schon gar nichts. Vielleicht sagt mir einfach jemand, was mir entgeht.«
Falkender hatte sich aus der Menge gelöst. »Ich kann einen Neuralanschluss herstellen, wenn Sie wollen«, sagte er. »Dauert nur einen Moment.« Er lotste Sylveste in eine Nische in einer Ecke des Gemeinschaftsraums, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Pascale und Sluka folgten. Dort öffnete er seinen Instrumentenkoffer und holte mehrere blitzende Mikrowerkzeuge heraus.
»Jetzt werden Sie mir gleich schwören, dass es überhaupt nicht wehtut«, bemerkte Sylveste.
»Ich denke nicht daran«, gab Falkender zurück. »Schließlich sollte man doch bei der Wahrheit bleiben, nicht wahr?« Er wandte sich fingerschnippend an Pascale, vielleicht auch an einen seiner Helfer, Sylveste konnte es nicht sehen, sein Sichtfeld war jetzt zu sehr eingeschränkt. »Bringen Sie dem Mann einen Becher Kaffee, das lenkt ihn ab. Wenn er den Schirm klar erkennt, braucht er wahrscheinlich ohnehin etwas Stärkeres.«
»So schlimm?«
»Ich fürchte, Falkender macht keine Scherze«, sagte Sluka.
»Meine Güte, Sie amüsieren sich ja alle ganz prächtig.« Sylveste biss sich auf die Lippe, als Falkender mit seiner Sonde die erste Schmerzkaskade auslöste, allerdings wurde der Schmerz im Verlauf der kleinen Operation nicht schlimmer. »Wollen Sie mich etwa von meinem Leiden erlösen? Immerhin war Ihnen die Sache wichtig genug, um mich zu wecken.«
»Die Ultras haben sich gemeldet«, sagte Sluka.
»Das hatte ich auch schon mitbekommen. Und wie haben sie sich eingeführt? Haben sie mitten in Cuvier ein Shuttle abgesetzt?«
»Nichts so Spektakuläres. Bis jetzt. Vielleicht steht uns ja noch Schlimmeres bevor.«
Jemand schloss seine Hände um einen Becher Kaffee; Falkender unterbrach sein Werk so lange, bis Sylveste einen Schluck getrunken hatte. Der Kaffee war nur lauwarm und schmeckte bitter, aber er wurde davon ein klein wenig wacher. Er hörte Sluka sagen: »Über den Schirm läuft eine audiovisuelle Botschaft, die inzwischen seit etwa dreißig Minuten ständig wiederholt wird.«
»Vom Schiff gesendet?«
»Nein, sie haben es offenbar geschafft, direkt auf unsere Kommunikationssatelliten zuzugreifen und ihre Botschaft an unsere Routine-Übertragungen anzuhängen.«
Sylveste nickte und bereute die Bewegung sofort. »Das heißt, sie fürchten immer noch, geortet zu werden.« Oder, dachte er, sie wollen nur noch einmal kundtun, dass sie uns technisch haushoch überlegen sind und jederzeit in unsere bestehenden Datensysteme eindringen und sie manipulieren können. Das erschien ihm wahrscheinlicher: es roch nicht nur nach der Arroganz aller Ultras, sondern nach einer ganz bestimmten Crew. Warum sich auf gewöhnliche Weise zu erkennen geben, wenn man die Eingeborenen auch mit einem brennenden Dornbusch beeindrucken konnte? Aber er brauchte eigentlich keine Bestätigung mehr dafür, dass er die Leute kannte. Er wusste Bescheid, seit das Schiff ins System gekommen war.
»Nächste Frage«, sagte er. »An wen ist die Botschaft gerichtet? Glauben sie immer noch, wir hätten hier planetare Behörden, mit denen sie verhandeln könnten?«
»Nein«, sagte Sluka. »Die Botschaft richtet sich an alle Bürger von Resurgam, gleich welcher politischen oder kulturellen Gruppe sie sich zugehörig fühlen.«
»Sehr demokratisch«, bemerkte Pascale.
»Ich habe meine Zweifel«, versetzte Sylveste, »ob Demokratiebewusstsein hier irgendeine Rolle spielt. Ganz sicher nicht, wenn wir es mit den Leuten zu tun haben, die ich kenne.«
»Was das angeht«, erinnerte ihn Sluka, »so haben Sie mir nie zu meiner vollen Zufriedenheit erklärt, warum diese Leute…«
Sylveste unterbrach sie. »Dürfte ich mir die Botschaft vielleicht erst ansehen, bevor wir sie im Einzelnen analysieren? Immerhin scheine ich ja persönlich davon betroffen zu sein.«
»So.« Falkender trat zurück und klappte seinen Instrumentenkoffer mit Entschiedenheit zu. »Ich sagte Ihnen ja, es dauert nur einen Moment. Jetzt können Sie sich direkt an den Schirm anschließen.« Der Chirurg lächelte. »Aber tun Sie mir einen Gefallen. Bringen Sie nicht den Boten um, weil Ihnen die Botschaft nicht gefällt!«
»Darüber werde ich entscheiden«, gab Sylveste zurück, »wenn ich die Botschaft gesehen habe.«
Sie übertraf seine schlimmsten Befürchtungen.
Er drängte sich wieder nach vorne. Die Menge war nicht mehr so dicht, die Zuschauer hatten sich allmählich verlaufen und gingen in anderen Teilen von Mantell ihrer Arbeit nach. Die Stimme aus dem Lautsprecher war jetzt besser zu verstehen. Er erkannte gewisse Eigenheiten im Tonfall der Frau wieder. Die Sätze, die er vor wenigen Minuten gehört hatte, wurden bereits wiederholt. Die Botschaft konnte also nicht sehr lang sein. Schon das war bedenklich. Wer flog schon viele Lichtjahre weit durch den interstellaren Raum, um dann eine Kolonie mit mehr als lakonischer Kürze von seiner Ankunft in Kenntnis zu setzen? Nur jemand, der keinerlei Interesse hatte, Freunde zu gewinnen, oder ganz genau wusste, was er wollte. Auch das passte gut zu seinen Erfahrungen mit dieser Besatzung, die seiner Meinung nach nur gekommen war, um ihn zu holen. Die Leute waren nie sehr gesprächig gewesen.
Zuerst hörte er nur die Stimme, die flüsternd über die Jahre zu ihm drang. Dann kam das Bild — als Falkender auch die letzte Neuralverbindung geschlossen hatte — und mit ihm die Erinnerung.
»Wer ist das?«, fragte Sluka.
»Bei unserer letzten Begegnung nannte sie sich Ilia Volyova.« Sylveste zuckte die Achseln. »Ob das ihr richtiger Name war, weiß ich nicht. Ich weiß nur eines: Wenn sie eine Drohung ausspricht, dann ist sie auch in der Lage, sie auszuführen.«
»Und was ist sie? Der Captain?«
»Nein«, sagte Sylveste zerstreut. »Nein, das bestimmt nicht.«
Das Gesicht der Frau war nicht weiter bemerkenswert. Ein fast monochromatisch fahler Teint, kurzes, schwarzes Haar, ein Gesichtsschnitt zwischen Kobold und Totenschädel und schmale, tief liegende, schräge Augen, die wenig Mitgefühl verrieten. Sie hatte sich kaum verändert. Aber dafür war sie eine Ultra. Für Sylveste mochten seit der letzten Begegnung Jahrzehnte subjektiver Zeit vergangen sein, für Volyova dagegen nur ein Zehntel oder ein Zwanzigstel davon, ein paar Jahre, nicht mehr. Für sie lag die letzte Begegnung noch nicht allzu lange zurück, während sie für Sylveste in die staubigen Annalen der Geschichte gehörte. Damit war er natürlich in der schwächeren Position. Volyova hatte seine Eigenheiten — die berechenbareren Aspekte seines Verhaltens — noch frisch in Erinnerung; sie hatte dem Gegner erst vor kurzem gegenübergestanden. Sylveste hatte Mühe gehabt, ihre Stimme zu erkennen, und als er sich zu erinnern suchte, ob er sie beim letzten Mal sympathisch gefunden hatte oder nicht, ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Natürlich würde mit der Zeit alles wiederkommen, aber der zeitliche Vorsprung wirkte sich zweifellos zu Volyovas Gunsten aus.