Sie hatte eigentlich nicht erwartet, dass sich schon in den ersten Stunden etwas bewegte. Das wäre zu optimistisch gewesen und hätte vorausgesetzt, dass Sylvestes Gefangenenwärter wach waren und ihre Warnung sofort mitbekamen. Realistisch betrachtet mochte es einen halben Tag dauern, bis die Nachricht durch die Befehlshierarchie an die richtige Stelle gelangte, und noch länger, bis man sich über ihre Echtheit vergewissert hatte. Doch als Stunde um Stunde verstrich und der Tag sich dem Ende zuneigte, konnte sie sich der Einsicht nicht mehr verschließen, dass sie ihre Drohung würde wahr machen müssen.
Natürlich hatten die Kolonisten nicht völliges Stillschweigen gewahrt. Zehn Stunden zuvor hatte sich eine anonyme Gruppe gemeldet, die behauptete, Sylvestes sterbliche Überreste abliefern zu wollen. Sie hatten sie auf einer Mesa deponiert und sich dann in Höhlen zurückgezogen, die für die Schiffssensoren nicht einsehbar waren. Volyova schickte eine Drohne hinunter, um das Material zu untersuchen, doch es war den Gewebeproben, die seit Sylvestes letztem Besuch auf dem Schiff aufbewahrt wurden, nur ähnlich, aber nicht damit identisch. Es war verlockend, die Kolonisten für den versuchten Betrug zu bestrafen, aber nach längerem Überlegen entschied sie sich dagegen: sie hatten nur aus Angst gehandelt, sie hatten außer ihrem Leben — und dem ihrer Landsleute — nichts dabei zu gewinnen, und sie wollte eventuelle andere Gruppen nicht so weit einschüchtern, dass sie nicht mehr vorzutreten wagten. So hatte sie sich auch zurückgehalten, als sich zwei Personen unabhängig voneinander als Sylveste ausgaben, denn es war offensichtlich, dass die Betreffenden nicht wirklich logen, sondern sich tatsächlich für den Gesuchten hielten.
Aber jetzt war die Zeit für weitere Täuschungsmanöver abgelaufen.
»Ich bin sehr überrascht«, sagte sie. »Ich war überzeugt, dass sie ihn innerhalb der Frist ausliefern würden. Aber offenbar wird der eine Geschäftspartner vom anderen schwer unterschätzt.«
»Sie können jetzt keinen Rückzieher machen«, mahnte Hegazi.
»Natürlich nicht«, sagte Volyova. Es klang so verwundert, als sei ihr der Gedanke an Gnade noch gar nicht gekommen.
»Nein, Sie müssen nachgeben«, sagte Khouri. »Sie können das nicht durchziehen.«
Sie hatte an diesem Tag noch kaum etwas gesagt. Vielleicht fiel es ihr schwer, damit zurechtzukommen, dass sie für ein Monster arbeitete, dass sich ihre bisher so faire Vorgesetzte unversehens in ein tyrannisches Ungeheuer verwandelt hatte. Volyova hatte sogar Verständnis dafür. Wenn sie ihr Gewissen erforschte, entdeckte sie tatsächlich monströse Züge, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Sobald eine Drohung einmal ausgesprochen ist«, sagte Volyova, »liegt es im Interesse aller Beteiligten, sie auch wahr zu machen, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden.«
»Und wenn sie die Forderungen gar nicht erfüllen können?«, fragte Khouri.
Volyova zuckte die Achseln. »Nicht mein Problem.«
Sie stellte die Verbindung zu Resurgam her und sagte ihren Text auf — sie wiederholte ihre Forderungen und zeigte sich tief enttäuscht darüber, dass Sylveste noch nicht zum Vorschein gekommen war. Während sie noch überlegte, ob sie überzeugend genug war — ob die Kolonisten ihre Worte auch wirklich ernst nahmen —, hatte sie plötzlich eine Eingebung. Sie nahm ihr Armband ab und gab ihm flüsternd Anweisung, in begrenztem Umfang Befehle von einer dritten Partei entgegenzunehmen, ohne diese zu verletzen.
Dann reichte sie es Khouri.
»Wenn Sie Ihr Gewissen beruhigen wollen, bitte sehr.«
Khouri betrachtete das Armband so misstrauisch, als fürchte sie, es würde plötzlich die Zähne fletschen oder Gift verspritzen. Dann hielt sie es an den Mund, ohne es sich vorher überzustreifen.
»Nur zu«, sagte Volyova. »Ich meine es ernst. Sagen Sie, was Sie wollen — ich versichere Ihnen, Sie werden nichts ausrichten.«
»Ich soll zu den Kolonisten sprechen?«
»Gewiss doch — wenn Sie glauben, sie besser überzeugen zu können als ich.«
Khouri schwieg eine Weile. Dann gab sie sich einen Ruck. »Mein Name ist Khouri«, sagte sie schüchtern in das Armband. »Es nützt Ihnen nichts, aber ich möchte Ihnen trotzdem versichern, dass ich nicht auf der Seite dieser Leute stehe. Ich bin nicht einverstanden mit dem, was sie tun.« Khouri sah sich mit großen Augen ängstlich auf der Brücke um, als erwarte sie, jeden Augenblick dafür bestraft zu werden. Aber die anderen hörten ihr nur mit mäßigem Interesse zu.
»Ich ließ mich auf diesem Schiff anwerben«, fuhr sie fort, »ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. Diese Leute wollen Sylveste. Und sie sagen die Wahrheit. Die Waffen befinden sich auf dem Schiff, ich habe sie gesehen, und ich glaube, sie werden sie auch einsetzen.«
Volyova machte ein unsäglich gelangweiltes Gesicht, als hätte sie genau das und nichts anderes erwartet. Immer dasselbe.
»Ich finde es sehr bedauerlich, dass niemand Sylveste an uns ausgeliefert hat. Volyova meint es ernst, wenn sie sagt, dass Sie dafür büßen müssen. Ich kann Ihnen nur raten, ihr zu glauben. Und es kann sich immer noch jemand mit ihm melden, noch wäre es nicht zu…«
»Genug.«
Volyova nahm das Armband wieder an sich. »Diesmal verlängere ich das Ultimatum nur um eine Stunde.«
Auch diese Stunde verging. Volyova zischte unverständliche Befehle in ihr Armband. Über Resurgams nördliche Breiten legte sich ein Zielerfassungsraster. Das rote Fadenkreuz glitt mit der unerschütterlichen Ruhe eines Hais über das Gebiet, hielt schließlich unweit der nördlichen Polkappe an und begann in noch blutigerem Rot zu pulsieren. Die grafische Statusanzeige zeigte Volyova, dass die Orbitalsuppressoren des Schiffes — so ziemlich das kümmerlichste Waffensystem, das es einsetzen konnte — aktiviert, scharf gemacht, ausgerichtet und feuerbereit waren.
Nun hielt sie eine weitere Ansprache an die Kolonisten.
»Bürger von Resurgam«, sagte sie. »Unsere Waffen sind jetzt auf die kleine Siedlung Phoenix gerichtet; vierundfünfzig Grad nördlich und zwanzig Grad westlich von Cuvier. In etwas weniger als dreißig Sekunden werden Phoenix und seine unmittelbare Umgebung aufhören zu existieren.«
Sie feuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen an, bevor sie fortfuhr: »Dies ist für die nächsten vierundzwanzig Stunden unsere letzte Verlautbarung. Bis dahin haben Sie Zeit, uns Sylveste zu bringen. Sonst nehmen wir uns ein größeres Ziel vor. Sie können von Glück reden, dass wir mit einer kleinen Siedlung wie Phoenix begonnen haben.«
Khouri erkannte in allen bisherigen Äußerungen den Tonfall der Lehrerin, die ihren Schülern geduldig erklärte, warum die Strafe, die sie zu verhängen gedachte, nicht nur in deren eigenem Interesse, sondern auch eine logische Folge ihres Verhaltens sei. Sie sparte sich den Satz: »Ich werde mehr darunter leiden als Sie«, aber Khouri wäre nicht überrascht gewesen, auch das noch zu hören. Konnte Volyova überhaupt noch etwas tun, das sie irgendwie überraschte? Sie hatte ihre Vorgesetzte nicht so sehr falsch eingeschätzt, als sie einer vollkommen falschen Gattung zugeordnet. Und das galt nicht nur für Volyova, sondern für die gesamte Crew. Khouri schüttelte sich vor Abscheu, wenn sie daran dachte, dass sie sich bis vor kurzem noch eingebildet hatte, zu ihnen zu gehören. Es war, als hätten sie sich alle die Maske vom Gesicht gerissen, und dahinter sei ein Schlangennest zum Vorschein gekommen.
Volyova feuerte.
Einen Augenblick — einen endlos langen, bedeutungsschwangeren Augenblick lang — geschah gar nichts. Khouri wiegte sich schon in der Illusion, am Ende sei alles doch nur ein Bluff gewesen. Aber diese Hoffnung wurde rasch zunichte. Die Wände der Brücke erzitterten, als schramme das Schiff wie ein alter Ozeandampfer an einem Eisberg entlang. Khouri spürte nichts davon, denn der Teleskoparm, auf dem ihr Sitz angebracht war, dämpfte die Schwingungen. Aber sie hatte das Zittern genau gesehen und Sekunden später grollte es wie ferner Donner.