»Versuch nicht, irgendwo ohne mich hinzugehen, Wiesel«, murmelte er drohend. Jetzt war zwischen uns wieder alles beim alten.
Wir begannen also, irgendwohin zu laufen, wobei Alfriks linke Hand schwer auf meiner Schulter lastete, während die rechte an seinem Gürtel auf dem Griff seines Messers lag. Zumindest nahm ich das an. Inzwischen war es wirklich zu dunkel, um das mit Bestimmtheit zu sagen.
Wir gingen langsam und zunächst schweigend von Bayard fort, wie ich wenigstens hoffte. Weit vor uns war der Sumpf von Insekten, von quakenden Ochsenfröschen und erwachenden Eulen belebt. Um uns herum war es völlig still bis auf gelegentliches Platschen, Warnrufe oder Flügelschlagen – Geräusche, die sich immer von uns entfernten. Aber wenn wir genug Lärm machten, um die kleinen Tiere zum Verstummen zu bringen oder in die Flucht zu schlagen, dann reichte das auch, um die größeren anzulocken.
Wenn sich ein größeres Tier näherte, konnte es nichts schaden, wenn ich leiser war – und Alfrik lauter. Um so besser, wenn sich dieses größere Tier nur auf einen konzentrierte.
»Wie hast du das geschafft?« fing ich an, nicht flüsternd, aber mit gedämpfter Stimme.
»Was geschafft?« fragte mein Bruder, dessen Stimme wie ein Nebelhorn durch den dunklen Sumpf schallte. Irgendwo direkt vor mir stob etwas erschreckt davon und entfernte sich mit schrillen Rufen.
Gut. Mein Bruder war laut.
Lock doch die Raubtiere an.
»Nun, wie bist du entkommen, Alfrik? Es ist gar nicht so einfach, unter Vaters Augen aus der Wasserburg zu schleichen. Ich wüßte gern, wie dir das gelungen ist.«
»Schon eine Stunde oder so nach eurer Abreise«, fing Alfrik gelassen an, wobei seine große Hand sich unangenehm in meine Schulter grub, »dachte ich gründlich über die ganze Sache nach und merkte, daß es Zeit wurde, ein paar alte Schulden einzutreiben. Denn, weißt du, kleiner Bruder, du bist nicht der einzige, der Schulden eintreibt.«
Er lachte dieses komische Lachen, das in alten Geschichten als anschwellendes, hysterisches Gelächter beschrieben wird. Glaubt mir, das ist genauso erschütternd, wie es sich anhört, besonders wenn man mit demjenigen, der es von sich gibt, allein im Sumpf ist. Wieder war ich sicher, daß ich gleich dran war. Ich ging weiter und beobachtete dabei sorgfältig den Boden vor mir.
Dann verstummte Alfriks Lachen so plötzlich und erschreckend, wie es begonnen hatte. Eine Zeitlang sagte er nichts mehr. Wir gingen weiter, und die einzigen Geräusche um uns herum waren das schrille Zirpen der Grillen, das immer langsamer wurde, je kälter die feuchte Nachtluft wurde.
»Kaum eine Stunde nach eurer Abreise bin ich einfach über die Zugbrücke nach draußen spaziert. Vater tat es nämlich furchtbar leid für mich, daß ich meinen Knappenposten und das alles verloren hatte, darum war er nicht so wachsam wie sonst. Also bin ich euch nach, als ihr erst gerade außer Sicht wart. Ich bin den Hufspuren gefolgt, bis ich merkte, daß sie von anderen Hufspuren gekreuzt wurden.«
»Zentauren«, unterbrach ich und bekam für diese Information einen Schlag auf die Ohren.
»Weiß ich, Wiesel! Glaubst du etwa, ich war so weit weg, als der alte Molasses umgekippt ist? Da hätte ich euch einholen können, aber ich wollte dich allein erwischen, und ich war mir nicht sicher, was passieren würde.
Als sie euch dann zu der Lichtung gebracht und verurteilt haben, da war ich gar nicht weit hinten dran, und bei dem Hinterhalt, wo mein heiliger, mittlerer Bruder vorbeikam und den Tag gerettet und die Sache durcheinandergebracht hat, da war ich auch in Sichtweite. Oh, ja, ich habe immer zugeguckt«, sagte er geheimnisvoll und stieß mich von hinten vorwärts.
Aber jetzt bewegte ich mich nicht.
»Alfrik, vor uns ist etwas, das gefährlich sein könnte.« –
Ich blieb, wo ich war. Alfrik nicht. Der schwere Brustpanzer knallte gegen meinen Hinterkopf. Das Metall schepperte direkt in meine Ohren.
»Was ist es?«
»Ich höre da drüben eine Bewegung. Da blubbert etwas, die Götter mögen uns helfen!«
»Weiter, Galen.«
»Nein, es stimmt.«
»Ich habe weiter gesagt!« Und er stieß mich auf das Geräusch zu. Ich zögerte, setzte den Fuß zögernd vor, zog ihn zurück.
Mein liebender Bruder stieß mich wieder. In Treibsand, Lava, eine Schlangengrube – ihm war es egal.
»Du hast mich gehört. Weiter. Keine Sorge, ich beschütze dich. Jedenfalls bis wir Bayard finden.«
Das war wenig beruhigend. Als wenn ich einer dieser berühmten Spatzen wäre, die die Zwerge mit in die Minen nehmen. Wenn die Vögel tot im Käfig umfallen, wissen die Zwerge, daß die Luft im Tunnel zu dünn und zu ungesund ist und machen schnell kehrt.
Ich stand wie angewurzelt da und widerstand dem Druck der Rüstung hinter mir, bis der Druck des Brustharnisches durch den Druck der Messerklinge verstärkt wurde.
»Also schön, Alfrik. Ich gehe. Ich gehe ins Ungewisse und wahrscheinlich in den Tod. Dafür bist jedenfalls du verantwortlich. Für alles, was mir zustößt.«
Mein Bruder lachte hinter mir im Dunkeln.
»Nun, Galen«, meinte er gedehnt, »ich glaube, damit kann ich leben.«Ich glaube, es war Treibsand – ein Loch wie die, die wir bei Tageslicht umgangen hatten, nur war es bei Dunkelheit gefährlicher, einfach weil man nicht sehen konnte, wo es anfing und wo es aufhörte. Der erste Schritt hinein reichte aus, um meine Ängste zu bestätigen: Das Blubbern, das Gefühl, daß jemand an den Sohlen meiner Stiefel zog. So etwas war gefährlich – konnte einen bis zu den Knöcheln, bis zum Bauch oder vollständig hinunterziehen, je nachdem, wie tief es war.
Schnell duckte ich mich mit der Schulter unter Alfriks Hand weg und sprang durch das Sumpfloch, weil ich darauf vertraute, daß es keine allzu große Version war.
Das war es auch. Nur etwas größer, als ich mir vorgestellt hatte. Nachdem ich ein paar Schritte gelaufen war, bemerkte ich, wie ich sank. Verzweifelt rief ich mir ins Gedächtnis, was ich über Treibsand wußte.
Nicht bewegen. Bewegung macht alles nur noch schlimmer.
Stillhalten, ganz still, und auf Hilfe warten.
Hilfe von einem hohlköpfigen Mistkerl mit einer hundert Pfund schweren Rüstung? Meine Beine strampelten nur noch schneller. Ich ruderte wild mit den Armen und hoffte inständig, daß ich hier lebend wieder herauskam.
Zweimal sank ich bis zu den Knien ein, einmal bis zur Hüfte, aber jedesmal gelang es mir, dem Sog wieder zu entkommen. Die ganze Zeit rief Alfrik hinter mir – seine Stimme war bei dem Geblubber im Teich nicht richtig zu verstehen. Er schrie Namen, Befehle, Drohungen.
Es würde eine gute Geschichte ergeben, wenn ich behauptete, daß meine Füße auf festen, trockenen Boden trafen, als ich gerade aufgeben wollte. Aber erst lange nach meinem Aufgeben bemerkte ich wohl, daß ich nicht mehr sank – daß ich knietief im Boden den Grund des Treibsands gefunden hatte. Mein Körper hatte sich automatisch und aus reiner Panik bewegt, nachdem sich mein Verstand schon völlig abgemeldet hatte.
Er hatte sich sehr peinlich abgemeldet. Zuletzt hatte ich nach allen um Hilfe geschrien – Bayard, Agion, Brithelm, den Satyren, dem Skorpion, Alfrik, und wer noch so in Hörweite sein mochte. Ich betete zu den Göttern. Dann feilschte ich und versprach, den Rest meines Lebens als irgendein Priester zu verbringen und vorher all mein Hab und Gut einem Paladintempel in Solamnia zu übereignen. Meine nächsten Gedanken waren weniger fromm gewesen, als ich von den nahen Zedern die Rinde abkratzte und dabei fluchte, daß noch die Stallburschen errötet wären. Ich hatte es mit Weinen, Plappern und sogar mit einem anschwellenden, hysterischen Lachen probiert.
Ich bin für alle Gebete oder Versprechungen oder Schreie oder Flüche dankbar, die mich auf die andere Seite des Treibsands gebracht haben. Denn ich weiß nicht, wie ich die letzten paar Meter in die Sicherheit geschafft hätte, wenn ich mich nicht an einer langen, dünnen Liane hätte entlanghangeln können, die auf dem Treibsand lag. Ich schlang sie mir um Bauch, Schultern und Hals, bis die Chancen gut standen, daß ich von meiner eigenen Rettungsleine erdrosselt werden würde.