»Du könntest arbeiten gehen, Will«, hatte Scott, ihr Mann, vorgeschlagen. »Teilzeit, meine ich. Natürlich nur, wenn du das möchtest. Finanziell ist es nicht notwendig. Außerdem willst du natürlich hier sein, wenn die Kinder vom Kindergarten und von der Schule nach Hause kommen.«
Aber ein Job war nicht das, was Willow wollte. Sie wünschte, die Leere auf eine Weise zu füllen, wie das nur mit der Geburt eines weiteren Kindes möglich war.
Ihr Interesse galt Kindern und Familie und nicht der Frage, ob dieses oder jenes Viertel zum idealen Wohngebiet ausgerufen würde. Als bekannt wurde, dass Nummer 1420 verkauft war, fragte sie sich daher nicht, ob die neuen Nachbarn auf ihrem Grundstück die dringend notwendigen Ausbesserungsarbeiten vornehmen würden - ein neuer Zaun um den Vorgarten wäre schon mal ein guter Anfang, fanden die Gilberts, die auf der anderen Seite von 1420 wohnten -, sondern vielmehr, wie groß die Familie war und ob man mit der Mutter wohl Kochrezepte austauschen könnte.
Was kam, war für alle eine Enttäuschung. Nicht nur blieb auf dem Anwesen Napler Lane zunächst alles so, wie es war, es zeigte sich weit und breit keine Familie, die mit Sack und Pack in das alte viktorianische Haus einzog. Sack und Pack wurden zwar abgeladen, aber die Mama, der Daddy, die fröhlich krähende Kinderschar, die eigentlich hätte mitkommen müssen - sie ließen sich nicht blicken. An ihrer Stelle erschien eine allein stehende Frau, eine allein stehende und - das musste man schon sagen - recht merkwürdige Frau.
Sie hieß Anfisa Telyegin und war der Typ von Frau, um die herum auf der Stelle Gerüchte in die Höhe schießen.
Zunächst einmal war da ihre ganze Erscheinung, die sich ziemlich genau mit dem Wortgrau beschreiben ließ. Grau das Haar, grau der Teint, grau die Zähne, Augen und Lippen, grau auch die Persönlichkeit. Sie war wie Kaminrauch im Dunklen - präsent, aber unbestimmbarer Herkunft. »Gruselig«, nannten sie die Kinder in der Napler Lane. Und es bedurfte keiner großartigen Fantasie, um von »gruselig« auf »Hexe« zu kommen.
Ihr Verhalten trug auch nicht dazu bei, den Eindruck zu verbessern. Wie sie die Grüße der Nachbarn erwiderte, das war kaum noch höflich zu nennen. Nie machte sie ihre Tür auf, wenn die Kinder klingelten, um selbst gebackene Plätzchen, Süßigkeiten, Zeitschriften oder Geschenkpapier zur Aufbesserung der Pfadfinderkasse zu verkaufen. Sie hatte kein Interesse daran, am Kaffeeklatsch teilzunehmen, der jeden Donnerstagmorgen im Haus einer der Mütter stattfand, die tagsüber zu Hause blieben. Und - das war ihr schwerstes Vergehen - sie zeigte keinerlei Neigung, sich auch nur an einer der Aktivitäten zu beteiligen, die nach Überzeugung der gesamten Nachbarschaft dazu beitragen würden, die Napler Lane auf den ersten Platz der kurzen Liste jener Viertel zu befördern, die als ideale Wohngebiete zur Wahl vorgeschlagen waren. Einladungen zu Förderveranstaltungen wurden ignoriert. Die Grillparty am 4. Juli hätte ebenso gut nicht stattfinden können. Bei den Weihnachtsfeiern glänzte Anfisa Telyegin durch Abwesenheit. Und dass sie etwa einen Teil ihres Gartens für das alljährliche Ostereiersuchen zur Verfügung stellen könnte - schon der Gedanke war absurd.
Noch sechs Monate nach Anfisa Telyegins Einzug in der Napler Lane 1420 wusste man über sie lediglich das, was man hörte und sah. Man hörte, dass sie am örtlichen Community College Unterricht in russischer Sprache und Literatur gab. Man sah, dass sie von Arthritis verkrüppelte Hände hatte, einen unschönen Altweiberbuckel, für den sie zu bedauern war, kein modisches Interesse, eine Neigung zu Selbstgesprächen und eine starke Leidenschaft für ihren Garten.
So wenigstens wirkte es zu Anfang. Denn kaum hatte Anfisa Telyegin das Verkaufsschild von dem ausgetrockneten Stück Erde entfernt, das ihr Vorgarten war, da kniete sie schon, vor sich hin brummelnd, draußen im Dreck und pflanzte englischen Efeu an, den sie in den folgenden Tagen düngte, goss und zu einem Wachstum hochpäppelte, das in der Geschichte der Napler Lane einzigartig war.
Die Leute hatten den Eindruck, Anfisa Telyegins Efeu wüchse über Nacht, in so rasantem Tempo überzog er den Boden und sandte seine Ranken in alle Richtungen aus. Innerhalb eines Monats gedieh das glänzende Laub so prächtig wie ein aus dem Tierheim erretteter Straßenköter. Nach weiteren fünf Monaten war der ganze Vorgarten buchstäblich ein grünes Meer.
Nun, dachten die Leute in der Nachbarschaft, würde sie den Zaun in Angriff nehmen, der vor Altersschwäche kaum noch aufrecht stand. Oder vielleicht die Kamine, sechs an der Zahl und alle von Vögeln besiedelt und mit deren Mist verkrustet. Oder auch die Fenster, wo seit fünfzig Jahren dieselben windschiefen Sonnenjalousien vor den Scheiben hingen, ohne je geputzt worden zu sein. Aber nein, sie begab sich in den Garten hinter dem Haus, bepflanzte auch ihn mit Efeu, zog zwischen ihrem Grundstück und den Anwesen der Nachbarn eine Hecke und baute einen sehr geräumigen Hühnerstall, in dem sie täglich zu den gleichen Tageszeiten - morgens und abends - mit einem Korb am Arm aus und ein ging. Auf dem Hinweg war der Korb stets mit Körnern gefüllt, auf dem Rückweg war er leer - so schien es jedenfalls allen, die die Frau zu sehen bekamen.
»Was fängt die Alte mit den ganzen Eiern an?«, fragte Johnny Hart, der im Haus gegenüber wohnte und zu viel Bier trank.
»Ich hab keine Eier gesehen«, erwiderte Leslie Gilbert. Aber dass sie nichts gesehen hatte, war ganz normal, denn sie bewegte sich tagsüber, wenn die Talkshows im Fernsehen ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, kaum je vom Sofa zum Fenster. Und dass sie Anfisa Telyegin abends sah, konnte man nicht erwarten. Da war es dunkel, und die Sicht war von den Bäumen versperrt, die die Frau jenseits der Hecke an der Grundstücksgrenze gepflanzt hatte und die, wie der Efeu, mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Höhe zu schießen schienen.
Die Kinder in der Napler Lane reagierten nach Kinderart auf die merkwürdigen Gewohnheiten der allein lebenden Frau. Die kleineren gingen auf die andere Straßenseite hinüber, wenn sie an Nummer 1420 vorbei mussten. Die größeren stachelten sich mit »Feigling, Feigling« gegenseitig dazu an, in den Garten einzudringen und mit flacher Hand gegen die verzogene Fliegengittertür zu klatschen, der seit dem vergangenen Halloween das Fliegengitter fehlte.
Die Ereignisse wären vielleicht aus dem Ruder gelaufen, hätte nicht Anfisa Telyegin selbst den Stier bei den Hörnern gepackt: Sie ging zum Chili-Essen, das die Leute aus der Napler Lane am Veteran's Day veranstalteten. Sie brachte zwar kein Chili mit, aber sie kam auch nicht mit leeren Händen. Und wenn Jasmine McKenna ein langes graues Haar aus dem Wackelpudding mit Limetten- geschmack und Bananenstückchen zog, den Anfisa zu dem Ereignis beitrug, so durfte man sich daran nicht stoßen. Was zählte, war schließlich der gute Wille - wenigstens in den Augen ihrer Mutter, wenn auch nicht in denen der anderen -, und dieser gut gemeinte Wackelpudding veranlasste Willow, die seltsame alte Frau von diesem Tag an mit wohlwollendem Blick zu betrachten.
»Ich bring ihr ein paar von meinen Schokonussschnitten rüber«, sagte sie eines Morgens, nicht lange nach dem Chili-Essen (bei dem übrigens zum dritten vermaledeiten Mal Ava Downey zur besten Köchin erklärt worden war), zu ihrem Mann Scott. »Ich glaube, sie weiß ganz einfach nicht, was sie von uns allen hier halten soll. Sie ist schließlich Ausländerin.« Die Nachbarn hatten es bei dem Chili-Essen von Anfisa selbst erfahren: Sie war in Russland geboren, als es noch Teil der UdSSR gewesen war; hatte ihre Kindheit in Moskau verbracht und später irgendwo hoch im Norden gelebt, bis die Sowjetunion in die Brüche gegangen war und Anfisa sich nach Amerika durchgeschlagen hatte.
Scott McKenna sagte: »Hm«, ohne wirklich zu hören, was seine Frau ihm erzählte. Er war gerade erst von der zweiten Nachtschicht bei TriOptics Incorporated zurück, wo er als Servicespezialist für das komplizierte Softwarepaket des Unternehmens stundenlang mit Kunden aus Europa, Asien, Australien und Neuseeland telefonieren musste, die mitten in der Nacht - Tag bei ihnen - anriefen und augenblicklich das Chaos entwirrt haben wollten, das sie selbst in ihrem System angerichtet hatten.