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»Scott, hörst du mir überhaupt zu?«, frage Willow, die sich so fühlte, wie sie sich stets fühlte, wenn im Gespräch mit ihr seine Reaktion das gebührende Maß an Anteilnahme vermissen ließ: ausgeschlossen und ins Leere gestürzt. »Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mir nicht zuhörst.« Ihr Ton war schärfer als beabsichtigt, und Jasmine, die gerade ihre Cheerios in der Milch herum­rührte, um sie so pappig zu machen, wie sie sie mochte, sagte:

»Ach, Mam! Geil dich ab.«

»Woher hat sie das denn?« Scott blickte vom Wirtschaftsteil der Zeitung auf, und der fünfjährige Max - der seiner großen Schwester alles nachzumachen pflegte - rief: »Ja, Mam. Geil dich ab«, und schlug mit der Hand mitten ins Gelb seines Spiegeleis.

»Von Sierra Gilbert wahrscheinlich«, sagte Willow.

»Pah!« Jasmine warf den Kopf zurück. »Sierra Gilbert hat es vonmir.«

»Es ist mir egal, wer es von wem hat«, sagte Scott und ließ viel sagend die Zeitung knallen. »Ich möchte nicht noch einmal hören, dass du so mit deiner Mutter sprichst, ist das klar?«

»Es heißt doch nur -«

»Jasmine!«

»Schon gut.« Sie streckte die Zunge heraus. Willow sah, dass sie sich schon wieder die Stirnfransen abgeschnitten hatte, und seufzte. Sie fühlte sich ihrer eigenwilligen Tochter, die mit Riesenschritten der Pubertät entgegen­eilte, nicht mehr gewachsen und hoffte, ihr dritter Sprössling, mit dem sie glücklich schwanger war - sei es eine kleine Blythe oder ein kleiner Cooper -, würde mehr ihrer Idealvorstellung von einem Kind entsprechen.

Ihr war klar, dass Scott ihren Plan einer Kuchenspende nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn absegnen würde, wenn und solange sie ihn nicht darüber aufklärte, warum ihrer Meinung nach eine gutnachbarliche Geste angebracht war. Doch sie wartete damit, bis die Kinder außer Haus waren, sicher und wohlbehalten zur Bushaltestelle am Ende der Straße geleitet und dort - Jasmines ärgerlichen Protesten zum Trotz - fürsorglich beaufsichtigt, bis sich die gelben Türen hinter ihnen geschlossen hatten. Als Willow zurückkam, wollte ihr Mann gerade zu Bett gehen und sich die fünf Stunden Schlaf gönnen, die er sich täglich gestattete, bevor er seine Arbeitskraft in die private Beraterfirma steckte, die er unter dem Namen McKenna Computing Designs ge­gründet hatte und die bis dato mit sechs Kunden aufwarten konnte. Noch neun Kunden dazu, und er würde bei TriOptics aufhören können. Vielleicht würde ihr Eheleben dann etwas mehr Normalität bekommen. Kein streng terminierter Sex mehr in den Stunden zwischen der Schlafenszeit der Kinder und Scotts Aufbruch zur Arbeit. Keine endlosen einsamen Abende mehr, in denen man dem Knarren der Dielen lauschte und sich dauernd selbst vorsagen musste, das seien ganz normale Hausgeräusche.

Scott war im Schlafzimmer dabei, seine Kleider abzulegen. Er ließ alles liegen, wo es hinfiel, warf sich aufs Bett, drehte sich auf die Seite und zog die Decke bis zum Hals hinauf. Er war noch siebenundzwanzig Sekunden vom ersten Schnarcher entfernt, als Willow zu sprechen begann.

»Ich hab nachgedacht, Schatz.«

Keine Reaktion.

»Scott?«

»Hm?«

»Ich hab über Miss Telyegin nachgedacht.« Vielleicht auch Mrs. Telyegin, dachte Willow. Sie hatte noch nicht herausbekommen, ob die Nachbarin verheiratet, ledig, geschieden oder verwitwet war. Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht recht erklären konnte, hielt Willow es für am wahrscheinlichsten, dass sie nie verheiratet gewesen war. Vielleicht hatte es mit den Gewohnheiten der Frau zu tun, die sich im Verlauf der Tage und Wochen zeigten und als immer eigenartiger entpuppten. Am Ungewöhnlichsten war, dass sie fast nur abends und nachts außer Haus ging. Darüber hinaus jedoch gab es allerhand andere Seltsamkeiten: zum Beispiel, dass die Sonnenjalousien von Nummer 1420 ständig herunter­gelassen waren; dass Miss Telyegin bei schönem wie bei schlechtem Wetter stets Gummistiefel trug, wenn sie aus dem Haus ging; dass sie nicht nur niemals Besuch empfing, sondern auch niemals ausging, außer täglich um dieselbe Zeit zur Arbeit.

»Wann geht sie einkaufen?«, fragte Ava Downey.

»Sie lässt liefern«, antwortete Willow.

»Stimmt, ich habe den Lieferwagen gesehen«, bestätigte Leslie Gilbert.

»Sie geht also tagsüber nicht aus dem Haus?«

»Niemals vor Einbruch der Dunkelheit«, sagte Willow.

So kam zur Hexe noch der Vampir hinzu, aber nur die Kinder nahmen diesen Beinamen ernst. Dennoch wurden die anderen Nachbarn Anfisa Telyegin gegenüber merk­lich zurückhaltend, was bei Willow neues Mitleid hervorrief und sie in ihrer Meinung bestärkte, dass Anfisas Bemühen anlässlich des Chili-Essens am Veteran's Day der Bewunderung und der Erwiderung wert sei.

»Scott«, sagte sie zu ihrem schläfrigen Ehemann, »hörst du mir zu?«

»Können wir das nicht später besprechen, Will?«

»Es dauert nur eine Minute. Ich habe über Anfisa nachgedacht.«

Er wälzte sich seufzend auf den Rücken und schob die Arme unter seinen Kopf, wobei er entblößte, was Willow am wenigsten gern sah, wenn sie ihn ins Auge fasste: die Achselhöhlen eines behaarten Esau. »Okay«, sagte er, ohne auch nur zu versuchen, den langmütigen Ehemann zu spielen. »Was ist mit Anfisa?«

Willow setzte sich auf die Bettkante. Sie legte ihre Hand auf Scotts Brust, um sein Herz spüren zu können. Er hatte eines, auch wenn er im Moment ungehalten war. Ein sehr großes sogar. Sie hatte es zum ersten Mal beim Schultanz erlebt, als er sie zur Partnerin erkoren und vor einem Dasein als Mauerblümchen bewahrt hatte, und sie ver­traute jetzt auf die Fähigkeit dieses großen Herzens, sich weit zu öffnen und ihre Idee in sich aufzunehmen.

»Es ist wirklich schade, dass deine Eltern so weit weg wohnen«, sagte sie. »Findest du nicht auch?«

Scott, der von Kindheit an unter den ewigen Vergleichen mit seinem älteren Bruder gelitten hatte und, um dem Leiden ein Ende zu bereiten, nur allzu gern mit seiner Familie in einen anderen Staat übergesiedelt war, kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Wieso schade?«, fragte er. »Wie meinst du das?«

»Na ja, achthundert Kilometer«, sagte Willow. »Das ist doch irre weit.«

Noch immer nicht weit genug, dachte Scott, um das ewige »dein Bruder, der Kardiologe« zum Verstummen zu bringen, das ihm überall folgte.

»Ich weiß, dass du die Distanz wünschst«, fuhr Willow fort, »aber für die Kinder wäre es schön, die Großeltern in der Nähe zu haben.«

»Nicht diese Großeltern«, erklärte Scott.

Es war die Entgegnung, die sie erwartet hatte, und es war ein Leichtes, sie als Einstieg in ihr Thema zu benutzen. Anfisa Telyegin habe mit ihrer Teilnahme am Chili-Essen den Nachbarn freundschaftlich die Hand geboten, setzte sie Scott auseinander, und sie finde, diese Geste verdiene Anerkennung. Wäre es nicht wunderbar, wenn man die Frau näher kennen lernen und sie vielleicht so etwas wie eine Ersatzgroßmutter für die Kinder werden könnte? Sie selbst - Willow - habe ja keine Eltern, die Jasmine, Max und dem Kleinen, das unterwegs war, ihre Weisheit und Lebenserfahrung weitergeben könnten. Und Scotts Eltern wohnten wie gesagt so weit weg ...

»Ich meine, Familie muss ja nicht gleich Blutsverwandtschaft sein«, erklärte Willow. »Leslie, zum Beispiel, ist für die Kinder wie eine Tante. Anfisa könnte wie eine Großmutter sein. Und außerdem blutet mir das Herz, wenn ich sehe, wie einsam sie ist. Gerade jetzt, wo die Feiertage kommen ... ich weiß auch nicht. Ich find's einfach traurig.«

Scotts Gesicht zeigte seine Erleichterung darüber, dass Willow nicht, wie befürchtet, vorgeschlagen hatte, sie sollten wieder in die Nähe seiner verhassten Eltern ziehen. Sie versuchte, sich in ihn einzufühlen, auch wenn sie seine Abwehr dagegen, sich weiteren Vergleichen mit seinem weitaus erfolgreicheren Bruder auszusetzen, vielleicht nicht verstand. Und er wusste, dass dieses Bemühen, sich in andere hineinzuversetzen, das sie auszeichnete und das er immer als ihre edelste Eigenschaft gesehen hatte, sich nicht auf seine Person beschränkte. Willow, seiner Frau, lagen auch andere Menschen am Herzen. Das war einer der Gründe, warum er sie liebte.