»Aber die Fallen sieht sie doch«, sagte Willow. »Und die toten Ratten auch. Da merkt sie sofort -«
»Du hast mich missverstanden, Darling«, sagte Ava.
»Ich rede nicht von Fallen.«
Von den Nachbarn rund um die Nummer 1420 kannte jeder die Gewohnheiten aller anderen: Jeder wusste zum Beispiel, um welche Zeit Johnny Hart morgens hinaustorkelte, um die Zeitung zu holen, oder wie lange Beau Downey jeden Tag den Motor seiner SUV hochjagte, ehe er zur Arbeit abbrauste. Das gehörte dazu, wenn man miteinander auf freundschaftlichem Fuß stand. Darum fühlte sich auch niemand zu einer Bemerkung darüber veranlasst, dass Willow McKenna auf die Minute genau sagen konnte, wann Anfisa Telyegin jeden Abend zu ihrer Arbeit im Community College aufbrach und wann sie danach wieder nach Hause kam.
Der Plan war einfach: Sobald Owen Gilbert für alle das erforderliche Schuhwerk besorgt hatte - keiner der Männer wollte in Slippers durch Efeu waten, in dem es möglicherweise von Ratten wimmelt -, würden sie loslegen. Die acht Treiber - wie sie sich selbst nannten - würden eine Kette bilden und in dicken Gummistiefeln langsam durch den Efeu überwucherten Vorgarten vorrücken. Sie würden die Ratten dem Haus zutreiben, wo die Terminatoren sie in Empfang nehmen würden, sobald sie auf der Flucht vor den Gummistiefeln aus dem Efeu hervorschossen. Die Terminatoren würden sich mit Knüppeln und Schaufeln und anderen Gegenständen, die zum Totschlag der ekligen Biester geeignet waren, bewaffnen.
»Meiner Meinung nach ist das der einzige Weg«, erklärte Ava Downey. Denn einerseits wollten alle es Anfisa Telyegin ersparen, ihren Garten voller Fallen mit toten Ratten vorzufinden; andererseits aber wollte auch keiner die Ratten im eigenen Garten haben, wohin sich die Tiere vielleicht noch schleppen könnten, wenn man Gift als Mittel zu ihrer Beseitigung wählte.
Aus diesem Grund schien die einzige Lösung im Nahkampf von Mann gegen Nager zu liegen. Und, wie Ava Downey es auf ihre unnachahmliche Art formulierte:
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Männer, groß und stark, wie ihr seid, was gegen ein bisschen Blut an den Händen habt - ich meine, es geht immerhin um eine gute Sache.«
Was sollten sie auf eine solche Herausforderung ihrer Männlichkeit sagen? Hier und dort trat einer nervös von einem Fuß auf den anderen, und jemand brummte: »Also, ich weiß nicht . «, aber Ava konterte sogleich mit: »Ich sehe einfach keine andere Möglichkeit, das zu erledigen. Natürlich bin ich jederzeit für andere Vorschläge offen.«
Die gab es nicht. Man setzte also einen Tag fest. Und dann wurden die nötigen Vorbereitungen getroffen.
Drei Tage später wurden alle Kinder abends zu den Harts gebracht, um sie den kommenden Ereignissen auf Nummer 1420 fern zu halten. Keiner wollte, dass seine Kinder etwas von der geplanten Vernichtungsaktion mitbekämen. Kinder seien hoch sensible, kleine Wesen, erklärten die Frauen ihren Männern nach einem letzten Kriegsrat beim Morgenkaffee. Je weniger sie von dem bevorstehenden Feldzug ihrer Daddys erführen, desto gesünder sei es für sie. Keine erschreckenden Erinnerungen und keine bösen Träume.
Die Männer unter ihnen, die etwas gegen Blut, Gewalt und Tod hatten, machten sich Mut, indem sie sich sagten, es gehe um das Wohl ihrer Kinder und um eine gute Sache. Einer oder zwei hielten sich vor, dass ein Garten voller Ratten beimWingate Courier bestimmt nicht gut ankäme und dem Bestreben der Napler Lane, den Status eines idealen Wohngebiets zuerkannt zu bekommen, kaum förderlich wäre. Andere schließlich trösteten sich damit, dass es ja nur zwei Ratten seien. Zwei Ratten und beinahe das Zehnfache an Männern . ? Das waren doch gute Chancen!
Genau dreißig Minuten, nachdem Anfisa Telyegin das Haus verlassen hatte, um zur Bushaltestelle zu gehen und von dort aus zum Community College zu fahren, rückten die Männer im Schutz der Dunkelheit an. Und die Erleichterung der Kleinmütigen war gewaltig, als die Treiber nur ganze vier Ratten in die wartende Kette der Terminatoren hineintrieben. Unter den Letzteren befand sich Beau Downey, der mit Vergnügen alle vier Ratten eigenhändig erledigte. »Hey, leuchtet mal hier rüber, da kriegen die richtig Schiss«, schrie er, während er ein Tier nach dem anderen zur Strecke brachte. Später hieß es, er hätte das Gemetzel ein bisschen zu sehr genossen. Er trug seinen blutbespritzten Overall mit dem Stolz eines Mannes, der nie eine echte Schlacht ausgetragen hatte. Er redete davon, dass man »die kleinen Scheißer kaltmachen« müsse und brach in Kriegsgeschrei aus, als sein Knüppel auf Ratte Nummer vier landete.
Er war auch derjenige, der darauf hinwies, dass man sich den Garten hinter dem Haus ebenfalls vornehmen müsse. Es wurde also die ganze Prozedur wiederholt, mit dem Ergebnis, dass weitere fünf Rattenkadaver in den Müllsack wanderten.
»Neun Ratten, doch nicht ganz so schlimm.« Owen Gilbert, der von Anfang an dafür gesorgt hatte, dass er bei den Treibern war und somit für immer vom Blut der Unschuldigen unbefleckt bleiben würde, war sichtlich erleichtert.
»Also, meiner Ansicht nach kann das nicht stimmen«, erklärte Johnny Hart. »Überlegt doch mal! Bei den McKennas war überall im Garten Kot, und bei Leslies Auto waren die Kabel durchgebissen. Ich glaub nicht, dass wir sie alle erwischt haben. Wer ist dafür, dass wir mal unters Haus kriechen? Ich hab ein paar Rauchbomben, mit denen könnten wir sie ausräuchern.«
Die Rauchbomben wurden gezündet, und drei weitere Ratten folgten ihren Brüdern und Schwestern in die ewigen Jagdgründe. Eine vierte jedoch entwischte Beaus Knüppel und floh in einem Höllentempo zu Anfisas Hühnerstall.
»Schnappt sie euch!«, schrie jemand, aber keiner war schnell genug. Das Tier schlüpfte unter den Verschlag und war verschwunden.
Seltsam war nur, dass die Hühner die Ratte in ihrer Mitte gar nicht zu bemerken schienen. Aus dem Stall war kein ängstliches Flügelschlagen und kein zorniges Gackern zu hören. Es war, als wären die Hühner betäubt oder - eine noch unheimlichere Vorstellung - von Ratten gefressen worden.
Ganz klar, dass einer würde nachsehen müssen, ob dies zutraf. Aber keiner war besonders erpicht darauf, die Aufgabe zu übernehmen. Argwöhnisch pirschten sich die Männer an den Hühnerstall heran, und diejenigen, welche Taschenlampen trugen, konnten sie kaum ruhig halten.
»Los, pack die Tür und reiß sie auf, Owen«, sagte einer der Männer. »Schnappen wir uns dieses letzte Biest, und dann nichts wie weg.«
Owen zögerte. Ihm lag überhaupt nichts an einer Konfrontation mit mehreren Dutzend verstümmelter Hühnerkadaver. Und dass sie auf Kadaver stoßen würden, schien mittlerweile sehr wahrscheinlich; denn im Hühnerstall blieb es trotz ihrer Annäherung totenstill.
»Verdammt noch mal!«, sagte Beau Downey angewidert, als Owen sich nicht rührte. Er drängte sich an ihm vorbei, riss die Tür auf und warf eine Rauchbombe in den Stall.
Und da ging es los.
Ratten strömten aus der Öffnung. Hunderte. Kleine Ratten, große Ratten, offensichtlich wohl genährte Ratten. Sie ergossen sich aus dem Hühnerstall wie heißes Pech aus dem Gusserker einer Wehrmauer und flitzten in alle Richtungen auseinander.
Die Männer schlugen mit Knüppeln und Schaufeln auf sie ein. Knochen splitterten, die Ratten quietschten und pfiffen, Blut spritzte. Die Strahlen der Taschenlampen fingen das blutige Massaker in grellen Lichtkreisen ein. Die Männer sprachen nicht, ächzten nur noch, während eine Ratte nach der anderen niedergemetzelt wurde. Es war wie ein primitiver Kampf um die Vorherrschaft zwischen zwei Spezies, von denen nur eine überleben würde.
Am Ende war Anfisa Telyegins Garten ein blutgetränktes Schlachtfeld, mit den Gebeinen und Kadavern des Feindes übersät.
Die Ratten, denen es gelungen war, zu entkommen, hatten sich in die Gärten der McKennas und der Gilberts geflüchtet; sie würden später von den Profis beseitigt werden. Und das Territorium, das diese wenigen überlebenden Ratten zurückgelassen hatten, war wie jedes andere Katastrophengebiet ein Ort, der nicht schnell wieder gesäubert und ganz gewiss nicht so schnell vergessen werden kann.